
‘Kremlin political intrigues are comparable to a bulldog fighting under a rug. An outsider only hears the growling, and when he sees the bones fly out from beneath it is obvious who won.’ In diesen Tagen ist Churchills Diktum über Stalin beinahe ein Trost für die Russlandforscher, die mit Deutungen des anstehenden Machtwechsels in Russland von den Geschehnissen immer wieder überrollt und widerlegt werden.
Putin will also der Regierung vorstehen wenn Dmitri Medvedev in den Kreml einziehen sollte. Dies war lange als eine unwahrscheinliche Variante angesehen worden, nunmehr scheint sie aber das tatsächliche Drehbuch zu sein. Bevor Putin das Angebot Medvedevs, die Leitung der Regierung zu übernehmen, noch nicht angenommen hatte, war zu vermuten, dass hinter dem Angebot lediglich die Absicht stand, die Wahlchancen Medvedevs zu befördern; ganz nach der Losung: ‚Stimmen Sie für Medvedev und sie bekommen Putin gleich dazu‘.
Mit der von Putin am Wahlkongress von Edinaja Rossija eingegangenen Selbstverpflichtung ist zwar dieser Effekt noch stärker gegeben; nun können die Wähler scheinbar sicher davon ausgehen, dass Putin auch nach den Wahlen im März im Zentrum der Macht verbleiben wird. Aber welche Absicht kann hinter diesem Drehbuch stehen?
De jure ist das Amt des Regierungsvorsitzenden gegenüber dem Präsidenten völlig abgewertet. Der Präsident kann nach den Regeln der Verfassung alle Regierungsentscheidungen aufheben, kann den Kabinettssitzungen vorstehen, hat sich durch Dekret im Jänner 1994 auch alle relevanten Ministerien unterstellt: Außen-, Verteidigungs-, Innen-, Justizministerium, die Direktoren des Inlands- und des Auslandsgeheimdienstes (FSB und SVR), aber auch des militärischen Aufklärungsdienstes (GRU). Der Präsident kann die Regierung jederzeit ohne Angaben von Gründen entlassen. Die Regierung zu leiten, ist daher keine machtgestaltende, sondern eine koordinierende und ausführende Aufgabe.
Manche erklären sich die Entscheidung Putins, dieses Amt dennoch zu übernehmen, mit der angeblichen Durchsetzungsschwäche Medvedevs und mit der persönlichen Loyalität Medvedevs gegenüber Putin. De jure übergeordnet, würde Medvedev nach dieser Deutung de facto die Macht in die Hände Putins legen. Dagegen spricht, dass Medvedev zwar als loyal gelten kann und nach außen tatsächlich wie ein eingeschüchterter Zögling Putins wirkt. Das hat aber auch auf Putin zugetroffen, als dieser wie ein Schuljunge von Jelzin über seinen Wahl zum Nachfolger informiert wurde. Zudem ist die Leitung des Aufsichtsrates von Gazprom, die Medvedev noch inne hat, nicht gerade ein Amt, das einem unerfahrenen, durchsetzungsschwachen Mann übertragen worden wäre
Wenn Medvedev also keine schwache Führungspersönlichkeit ist und als Präsident de jure über der Regierung steht, wäre ein Führungskollektiv Medvedev-Putin höchst riskant und grundsätzlich instabil. Dies umso mehr, als mit dem Einzug eines neuen Präsidenten in den Kreml sich Loyalitäten rasch ändern, denn der neue Zar verfügt über die Macht, Pfründe neu zu verteilen.
Wenn alle diese Faktoren aber zutreffen, warum hat sich Putin aber dennoch für diese Variante entschieden? Kein Russlandforscher ist in der Lage, zu wissen, was der Grund dafür ist; möglich ist nur, auf höchstem Informationsniveau zu deuten und zu verstehen suchen. Meine Sicht der Dinge ist daher, dass die Ankündigung Putins nicht nur den Zweck verfolgt, bis zuletzt nicht als ‚lame duck‘ zu erscheinen, sondern dazu dienen soll, die derzeitige Instabilität in den Führungsrängen unter Kontrolle zu halten.
Bereits in den vergangenen Monaten hat sich die – mitunter auch gewaltsame – Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Lagern der Sicherheitsdienste, der siloviki, verschärft. Wechselseitige Verhaftungen und Intrigen waren an der Tagesordnung. Im Zentrum standen die ‚hard core siloviki‘ um FSB-Direktor Patrušev, dem stv. Leiter des Präsidialamtes Sečin, dem Leiter der staatsanwaltschaftlichen Untersuchungsbehörde Bastrykin und dem stv. FSB-Direktor Bortnikov. Zuletzt hatte diese Fraktion den stv. Finanzminister Storčak, der Medvedev und Finanzminister Kudrin nahesteht, verhaften lassen.
Inmitten dieser gefährlichen Unruhe, hat sich Putin für Medvedev entschieden und damit den siloviki eine herbe Niederlage beigefügt. Letztere waren und sind aber nicht bereit, diese einfach hinzunehmen; zu viel an Macht und Einfluss steht auf dem Spiel.
Hier setzt auch meine Erklärung für Putins Entscheidung, die Regierungsleitung zu übernehmen, an. Putin könnte damit zwei Ziele zu erreichen versuchen: Zum einen wird durch seinen, wenn auch abgestuften, Verbleib an der Macht den siloviki signalisiert, dass deren Interessen nicht völlig marginalisiert, sondern durch Putin zumindest in den Grundzügen gesichert werden.
Zum anderen – und dies scheint mir die wichtigste Absicht Putins zu sein – versucht Putin damit, Medvedev Zeit zu geben, nach der Wahl zum Präsidenten seine Autorität auszuweiten, bis dieser de facto stark genug ist, die bisherige Funktion Putins zu übernehmen, gleichsam als Vermittler zwischen den rivalisierenden Lagern stabilisierend zu wirken.
Putins Entscheidung könnte daher weniger seinem persönlichen Machterhalt, sondern mehr der Wahrung der Systemstabilität geschuldet sein. Aber vielleicht sehen wir noch immer zu wenige Gebeine der sich zerfleischenden Hunde ….
Dieser Kommentar erscheint am 19. Dezember 2007 in der Tageszeitung ‘Der Standard’ in einer durch die Redaktion leicht veränderten Version.
Foto: http://www.petplanet.co.uk/petplanet/breeds/Bulldog.htm