
Das Ergebnis war in den Führungsstäben des Präsidialamtes bereits befürchtet worden – der regimetreuen Bewegung ‚Geeintes Russland’ werde es nicht gelingen, trotz schmutziger Tricks einen eindrücklichen Sieg an den Wahlurnen zu erreichen. Die gleichgeschalteten ‚Einheitsrussen’ sind bei der Bevölkerung wenig beliebt; sie gelten als farblose, graue Bürokratenriege, ohne klare Ziele und Konzepte. Die Entscheidung Vladimir Putins im Oktober, deren Kandidatenliste bei den Staatsdumawahlen anzuführen, war denn auch bereits eine Reaktion auf relativ schwache Umfragewerte der Partei im Frühherbst gewesen.
Letztlich hat aber auch das Charisma Putins nicht gänzlich ausgereicht, das matte Antlitz von Edinaja Rossija zu überstrahlen. Das lässt sich auf mehrere Ursachen zurückführen: Die aufdringliche Präsenz von ER in den staatlichen elektronischen Medien war vielen Bürgern bereits ein Ärgernis geworden; die immer arrogantere Selbstdarstellung erregte Missfallen. Entscheidender aber um den glanzlosen Wahlsieg zu verstehen ist, auch die Grenzen der Führungskraft und der Wählerwirkung Putins auszuloten: Es stimmt zwar, dass die Zustimmungsraten Putins derzeit bei 85 Prozent liegen. Aber nur 23 Prozent stimmen der Amtsführung Putins völlig zu; die übrigen stimmen nur ‚eher zu’. Auch die Vertrauenswerte Putins liegen deutlich niedriger – lange nur zwischen 45 und 50 Prozent.
Trotzdem aber gilt – auch wenn man die Medienkontrolle bedenkt –: Putin ist für eine Mehrheit der Russen eine Führungsfigur ohne Rivalen; die Konzentration der Macht in den Händen eines ‚guten Zaren‘ ist für die Mehrheit der Bürger ein Wert an sich; Studien zeigen zwar, dass sich mehr als 80 Prozent der Bürger ohne Einwirkungsmöglichkeit auf die Regierung sehen, aber zugleich unterstützen mehr als 70 Prozent eine ‚eiserne Führung‘. Die Akzeptanz der Ohnmacht, wenn die Führung in guten Händen liegt, ist der lebenskulturelle Rahmen von Putins Führungsstärke.
Wenn aber das Ansehen Putins trotz der genannten Einschränkungen bemerkenswert ist, stellt sich die Frage, warum die Führung Russlands es dann nicht gewagt hat, freie und demokratische Wahlen zuzulassen. Ein wesentlicher Grund dafür ist der unbeschränkte Herrschaftsanspruch der Machtelite: auch nur der Eindruck, es gäbe oppositionellen Widerspruch wird als störend wahrgenommen. Liberale Parteien – unterstützt vor allem von den gebildeten städtischen Mittelschichten – hätten in einem fairen Wahlgang gemeinsam 10–15 Prozent der Wählerstimmen gewinnen können; sie wären damit zu einem Machtfaktor geworden, der den Bürgern eine zumindest langfristige Alternative zur herrschenden Riege sichtbar gemacht hätte; eine Alternative, die darauf hoffen hätte lassen können, in einigen Jahren zu einer wirklichen Herausforderung zu werden. Eine liberale Opposition, die an den Wahlurnen nun aber ‚vernichtet’ wurde, signalisiert den Bürgern die Aussichtslosigkeit politischer Opposition und befördert deren Rückzug in das Private.
Ein weiterer Grund aber für die manipulierten Wahlen ist, dass Putin eine möglichst hohe Stimmenmehrheit als deutliches Vertrauensvotum brauchte, ein erneuertes Mandat als Führer des Landes. Jede Stimme, die dabei an liberale Parteien geht, ist eine Stimme, die an dem bonapartistischen Fundament der Macht nagt. Führer brauchen keine Mehrheiten, sondern bedingungslose Gefolgschaft.
Die Schwäche der liberalen Bewegungen lässt sich aber nicht ausschließlich auf die restriktiven Bedingungen des vergangenen Wahlkampfes – ungleicher Zugang zu den elektronischen Medien, systematische Behinderungen der Opposition bei Wahlversammlungen – zurückführen.
Der linksliberalen Jabloko und der rechtliberalen SPS war es schon nach dem Ausscheiden aus der Staatsduma bei den Wahlen 2003 kaum noch möglich gewesen, sicht- und wahrnehmbar zu bleiben. Ohne eigene Abgeordnete war es kaum noch möglich, sich den Wählern in Erinnerung zu halten; aber mit dem zunehmend restriktiveren Zugang zu den elektronischen Medien wurde dies aussichtslos.
Aufgrund rückläufiger finanzieller Mittel waren die liberalen Bewegungen auch schon in den Jahren zuvor gezwungen, ihre Stäbe zu kürzen und regionale Sektionen aufzulösen. Die finanzielle Austrocknung des liberalen Lagers wird sich nun aber noch verschärfen: Weil Jabloko und SPS weniger als 3 Prozent der Wählerstimmen erhalten haben, verlieren sie die jährliche staatliche Finanzierung von 5 Rubel (€ 0.12) pro Wähler. Dazu kommt, dass die beiden Parteien nun auch gezwungen sind, den elektronischen Medien die Werbeeinschaltungen zu bezahlen, die kostenlos nur für die Parteien bleiben, die zumindest 2 Prozent der Wählerstimmen erzielen. Auch die Sicherungseinlage in der Höhe von 1.44 Millionen Euro, die für das Antreten von Parteien, die nicht schon im Parlament vertreten sind, zu erbringen sind, gehen für die Parteien verloren, die weniger als vier Prozent der Wählerstimmen gewinnen. Angesichts des Umstands, dass es viele Unternehmen ohnehin nicht mehr wagen, liberale Parteien zu unterstützen – aus Angst vor behördlichen Schikanen, v.a. durch die Steuerpolizei – ist der demokratischen Bewegung die finanzielle Überlebensgrundlage entzogen.
Dennoch aber ist anzumerken, dass die Liberalen an ihrer tristen Situation mitschuldig sind. Die ‚Tragödie der Liberalen’ ist ihre Unfähigkeit, inhaltliche Differenzen, vor allem aber persönliche Rivalitäten zu überwinden und sich in einer gemeinsamen Bewegung zusammenzuschließen. Erst in den letzten Wochen haben SPS und Jabloko begonnen, Demonstrationen der Bewegung ‚Anderes Russland‘ von Gari Kasparov zu unterstützen. Außerdem werden die Liberalen von einer großen Mehrheit der Bürger noch immer – für die rechten Liberalen gilt dies auch zurecht – als verantwortlich angesehen für die soziale Verwahrlosung, den wirtschaftlichen Niedergang, die Korruption, die schamlose Bereicherung weniger Höflinge des Kreml und das politische Chaos der Jelzin-Jahre. Die liberalen Parteien brauchen daher neue Führungspersönlichkeiten, um zukunftsfähig zu bleiben. Die derzeitige Generation ist verbraucht und wird ihre Glaubwürdigkeit nicht wiedergewinnen. Es wird aber noch dauern, bis eine neue Generation heranwachsen und die derzeitigen Führungen abtreten werden. Die Lektion der unabdingbaren Gemeinsamkeit unter neuer Führung, hätten die liberalen Parteien schon mit ihrer Wahlniederlage 1999 lernen können. Acht Jahre haben sie nunmehr verloren und scheinen kaum einsichtiger geworden zu sein; ein gemeinsamer Kandidat für die Präsidentenwahlen im März 2008 scheint noch immer ausgeschlossen. In diesen acht verlorenen Jahren aber ist Russland autoritärer und repressiver geworden; der Spielraum für liberale Bewegungen ist nun ungleich geringer als er damals noch war; all das aber wäre nicht so leicht möglich gewesen, hätte sich die Liberalen nicht selber aufgerieben.