Ein Fünf-Fronten-Krieg gegen Israel?

Der brutale terroristische Angriff der radikal-islamistischen palästinensischen Hamas auf Israel, die wahllose Ermordung von israelischen Zivilisten, die Entführung von Israelis und die erschreckende Grausamkeit des Vorgehens der Terroristen hat viele Menschen erschüttert. Die Hamas hat dabei zahlreiche Normen des humanitären Völkerrechts gebrochen. Israel hat bislang mit einem Luftkrieg gegen den Gazastreifen geantwortet. Israel hat das ungebrochene Recht auf Selbstverteidigung nach Art.51 der Charta der Vereinten Nationen. Von der israelischen Armee wurde die völlige Abriegelung des Gazastreifens verkündet: kein Wasser, keine Nahrungsmittel, kein Strom und kein Treibstoff werden mehr nach Gaza durchgelassen. Diese Blockade ist natürlich auch ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Wird der Gaza-Streifen aber die einzige Frontlinie bleiben, an der Israel kämpfen muss, oder droht ein Krieg an gleich mehreren Fronten.

Die von Iran finanzierte und militärisch ausgerüstete libanesische Schiitenmiliz Hizbullah hat seit dem 7. Oktober vereinzelt immer wieder Raketen auf israelisches Territorium abgefeuert. Sollte die Hizbullah eine Großoffensive starten, wäre Israel auch im Norden unter der Attacke von Terroristen. Die Hizbullah, die von der libanesischen Regierung nicht kontrolliert werden kann, ist gut ausgerüstet und hat auch genügend Kämpfer – auch wenn viele Kämpfer der Miliz im Krieg in Syrien gefallen sind. Ein voller Angriff auf Nordisrael würde eine große Zahl an Personal, Waffen und Munition der israelischen Armee dort binden. Die Ressourcen für den Luftkrieg in Gaza und eine mögliche Bodenoffensive im Gazastreifen würden dadurch geringer. Derzeit gilt es aber als unwahrscheinlich, dass die Hizbullah eine groß angelegte Attacke gegen Israel starten wird; sollte Israel eine Bodenoffensive gegen Gaza starten, könnte sich das Kalkül der libanesischen Miliz aber verändern.

Befürchten muss Israel auch Aufstände in dem von der Palästinenserorganisation PLO kontrollierten Westjordanland. Die dort in Ramallah beheimatete Palästinensische Autonomiebehörde unter der Führung des, seit langem nicht mehr demokratisch legitimierten, Mahmoud Abbas, könnte die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel aufkündigen. Hält sich die Autonomiebehörde aber zurück, können radikale Palästinenser aus Sympathie mit der Hamas Terroranschläge verüben oder gar einen Aufstand – eine dritte Intifada – auslösen. Letzteres würde für Israel eine dritte Front bedeuten. Terroranschläge im Westjordanland sind durchaus möglich, ein Volksaufstand ist derzeit aber nicht wahrscheinlich.

Möglich wären auch vereinzelte militärische Attacken durch, vom Iran finanzierte und ausgerüstete, Schiitenverbände von syrischem Territorium aus. Solche Angriffe haben in den letzten Jahren immer wieder stattgefunden. Israel antwortete darauf regelmäßig mit Luftangriffen auf iranische Stellungen in Syrien.

Dramatisch aber wäre, wenn sich der Iran direkt militärisch in den gegenwärtigen Konflikt einmischen würde. Die Beziehungen zwischen Israel und Iran sind gleichsam nicht vorhanden. Der Iran lehnt das Existenzrecht für Israel ab und spricht über das Land als „zionistisches Gebilde“, das ausgeschaltet werden müsse.  Deswegen ist Israel auch so besorgt über ein mutmaßlich militärisches Nuklearprogramm des Iran. Israel beteuert zwar öffentlich, dass es keine Belege dafür gebe, dass Iran hinter den Hamas-Attacken stehe, aber das ist wohl nur der Versuch, die Spannungen mit Iran nicht weiter aufzuheizen. Sollte der Iran direkt militärisch in Palästina eingreifen und damit eine potenzielle fünfte Front gegen Israel eröffnen könnte, wird Israel nicht nur gegen palästinensische Kämpfer und Terroristen kämpfen müssen, sondern auch einen zwischenstaatlichen Krieg führen müssen. Für diesen Fall – der aber nicht wahrscheinlich ist – würden dann aber zusätzliche Länder in den Krieg eingreifen, allen voran die USA. Von Israel und den USA würden dann wohl Luftangriffe gegen verbunkerte iranische Nuklearanlagen gestartet werden.

Angesichts dieser potenziellen Eskalationsrisiken, sollte durch internationale Vermittlung dringend ein Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel erreicht werden. Derzeit wollen sich aber weder die Hamas noch Israel auf ein solches Szenario einlassen.

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Wie weiter im Ukrainekrieg?

Langsam nur kommt die ukrainische Sommeroffensive voran. Sie ist nicht gescheitert, sie hat aber die erwarteten oder auch erhofften Ziele bislang nicht erreicht. Angestrebt war die Eroberung der Stadt Melitopol in der Region Zaporižžja und vielleicht sogar ein Vorstoß an die Küste des Asovschen Meeres. Die von Russland besetzten Gebieten wären dadurch in zwei Teile aufgespalten worden. Dazu wird es dieses Jahr wohl nicht mehr kommen. Beobachter nehmen an, dass bei einem solchen mäßigen Verlauf der Offensive der Druck aus einigen westlichen Staaten auf die ukrainische Führung zunehmen könnte, sich doch auf Verhandlungen über eine Waffenruhe einzulassen. Zu rechnen ist aber nicht damit, dass dies im globalen Westen mehrheitlich so gesehen wird. Vielmehr dürfte dieser durch die Lieferung von neuen Waffen und mehr Munition eine neuerliche ukrainische Offensive im Frühjahr 2024 unterstützen. Dazu zählen die F-16 Kampfflugzeuge, die von Norwegen, Dänemark und den Niederlanden geliefert werden sollen wie auch möglicherweise der deutsche Marschflugkörper Taurus und das US Army Tactical Missile System.

Für eine Verhandlungslösung gibt es derzeit keinerlei Perspektive. Beide Kriegsparteien sind davon überzeugt, auf dem Schlachtfeld letztlich erfolgreich zu sein. Russland und die Ukraine erklären sich zwar grundsätzlich für verhandlungsbereit, aber stellen dafür Vorbedingungen, die für die jeweils andere Seite nicht annehmbar sind. Russland fordert von der Ukraine die „Anerkennung der neuen Realitäten“. Das bedeutet, dass die ukrainische Führung die von Russland teilweise besetzten ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Zaporižžja als Territorium Russlands anerkennen müsse; und zwar nicht nur die besetzten Teile dieser Regionen, sondern in deren vollen Verwaltungsgrenzen. Die ukrainische Führung, aber auch die große Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung sind gegen territoriale Zugeständnisse an Russland. „Land für Frieden“ wird als unbrauchbares Konzept abgelehnt.

Die Ukraine will auf der Basis der „Friedensformel“ von Präsident Selenskiy mit der russischen Seite erst verhandeln, wenn alle russischen Truppen das gesamte Territorium der Ukraine verlassen haben, d.h. auch die Krim und die Hafenstadt Sevastopol. Das wäre aber gleichbedeutend mit einer desaströsen Kriegsniederlage Russlands; dazu ist die russische Führung freiwillig aber nicht bereit. Zudem will die Ukraine nach einem Dekret Selenskys nicht mit Putin verhandeln: „Wir werden mit den nächsten Führer Russlands sprechen“, heißt es aus Kiyv.

Die Absage an eine Verhandlungslösung gilt dabei sowohl für eine Waffenruhe als auch für eine endgültige Friedensregelung, die nach Ansicht der ukrainischen Führung einen „dauerhaften und gerechten Frieden“ bringen soll. Wenn der Krieg also weitergehen wird, stellt sich die Frage welche Kriegsziele der Westen erreichen will. Offiziell natürlich ist die westliche Position, dass die Ukraine alleine über ihre Kriegsziele entscheiden soll. Hinter den Kulissen ist dem aber nicht so. Das hängt auch damit zusammen, dass der globale Westen durch die Lieferung von Waffen und Munition mitentscheidet, wozu die Ukraine militärisch befähigt werden soll. Mehrheitlich stellen sich die Staaten hinter das maximale Ziel der Ukraine, die russischen Truppen vom gesamten völkerrechtlichen Territorium zu vertreiben. Besonders stark ist die Haltung in Osteuropa und im Vereinigten Königreich. Es gibt aber noch Regierungen, die vor diesem maximalen Kriegsziel warnen oder damit zumindest unbehaglich sind. Sie fürchten die militärische Eskalation des Krieges, wenn die Ukraine in der Lage und entschlossen wäre, auch die Krim zurückzuerobern – eine horizontale Eskalation, d.h. die Ausdehnung des Krieges auf zusätzliche Staaten oder eine vertikale Eskalation, d.h. der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen durch Russland. Letzteres ist zwar nicht wahrscheinlich, aber es bleibt ein Restrisiko bestehen, das politisch bearbeitet werden muss.

Die Unterstützer der ukrainischen Maximalziele stufen das Risiko einer derartigen Eskalation als gering ein. Die impliziten russischen Drohungen mit Nuklearwaffen wären nur ein Bluff, der Angst in den westlichen Bevölkerungen säen soll. Der Westen dürfe sich nicht selbst abschrecken, d.h. die Unterstützung der Ukraine aus Furcht vor dem Einsatz russischer Nuklearwaffen begrenzen. Die Regierungen, die dieses Restrisiko nicht ausblenden wollen, argumentieren, dass die Folgen eines Nuklearwaffeneinsatzes in mehrfacher Hinsicht dramatisch wären; daher solle man es nicht darauf ankommen lassen, ob die russischen Drohungen nur ein Bluff sind.

Der Krieg wird also weitergehen. Darüber wie lange gibt es keine Einigkeit bei den Militärexperten. Grundsätzlich kann dieser Krieg auf drei Weisen enden: Das erste Szenario wäre die Intervention eines dritten Akteurs, der die Kriegsparteien zur Einstellung der Kämpfe zwingen wird; das ist sehr unwahrscheinlich. Die zweite Option ist ein Siegfrieden durch eine Kriegspartei, die die Verhandlungslösung dann diktiert. Die dritte Option ist die militärische Erschöpfung beider Kriegsparteien; wenn sie keinen militärischen Erfolg mehr erwarten, werden sie sich zu Verhandlungen bereit erklären. Im Krieg in der Ukraine sind wir von allen drei Szenarien noch weit entfernt.

 

Dieser Text ist als Gastkommentar am 21.9.2023 in der Tageszeitung Der Standard erschienen.

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Vermeintliche oder vermutete rote Linien

Die russische Führung sieht rot. Außenminister Lavrov meinte, die angekündigte Lieferung von F-16 Kampfflugzeugen an die Ukraine durch die Niederlande und Dänemark werde in Russland als „nukleare Bedrohung“ gesehen, weil mit diesem Flugzeug Nuklearwaffen transportiert werden können. In Moskau wird die Überlassung dieses Mehrzweckflugzeuges an die Ukraine als Bedrohung angesehen, die zu angeblich zu einer weiteren militärischen Eskalation führen würde. Kritiker westlicher Lieferungen von Kampfflugzeugen weisen daher auch darauf hin, dass Russland damit eine rote Linie überschritten sähe, wofür es Vergeltung üben werde. Der Krieg werde militärisch eskalieren, mahnen Beobachter.

Aber Russland kann den Krieg kaum noch eskalieren. Der Krieg ist nahezu grenzenlos eskaliert. Die eingesetzten russischen Waffen, die Zielauswahl, der Beschuss von ziviler Infrastruktur und Wohngebäuden, Schulen und Krankenhäusern, Angriffe durch Drohnen, ballistische Lenkwaffen und Marschflugkörpern auf Städte, Bahnhöfe und Flughäfen ist bereits Realität. Die nahezu einzige Möglichkeit, mit der Russland eine Eskalation des Krieges herbeiführen könnte, ist der Einsatz von (taktischen) Nuklearwaffen. Es ist aber nahezu völlig auszuschließen, dass die russische Führung dies aufgrund der Lieferung von F-16 Kampfflugzeugen tun würde. Ein Nuklearwaffeneinsatz im Krieg in der Ukraine ist nicht wahrscheinlich, aber denkmöglich. Falls dieser Fall eintreten sollte, dann nur wenn Russland vor einer desaströsen Kriegsniederlage stehen sollte – allen voran vor dem Verlust der Krim.

Die Ausrüstung mit F-16 aber ist keineswegs ein Garant für einen großen militärischen Erfolg der ukrainischen Armee. Dadurch würde die ukrainische Offensive zweifellos gestärkt. Vor allem könnte die Ukraine mit den Luft-Boden und Luft-Luft Raketen der F-16 die Dominanz der russischen Armee bei Kampfflugzeugen an der Frontlinie brechen. Das Kampfflugzeug ist für die ukrainischen Kriegsziele wichtig, aber es ist kein game-changer. Militärischer Erfolg an allen Linien ist damit keinesfalls garantiert.

Auch ukrainische Angriffe auf russische Grenzregionen wie Kursk, Brjansk, Belgorod und Rostov sowie Drohnenangriffe auf Moskau überschreiten keine russische rote Linie, die den Einsatz von Nuklearwaffen auslösen würde. Dennoch sind diese ukrainischen Angriffe für die russische Führung unangenehm. Die Ukraine will damit zwei zentrale Ziele erreichen: Zum einen soll damit der Krieg nach Russland getragen werden. Niemand in Russland solle sich mehr sicher fühlen. Der beschauliche Alltag in Moskau, der durch den Krieg bisher kaum berührt wird, soll gestört werden. Zum anderen will die ukrainische Führung den russischen Bürgern auch signalisieren, dass der russische Staat nicht imstande sei, sie vor solchen Angriffen zu schützen. Das gilt vor allem für die militärischen Schläge gegen russische Grenzregionen.

Die einzige rote Linie für Russland, die ohne nukleare Antwort nicht überschritten werden dürfte, könnte der Verlust der Krim und der Hafenstadt Sevastopol sein. Der steht aber keineswegs bevor, auch wenn sich die ukrainische Sommeroffensive in den nächsten Monaten noch erfolgreicher gestalten sollte als bisher. Es gibt daher derzeit kein Anzeichnen für die Vorbereitung eines Nukleareinsatzes. Russische taktische Nuklearwaffen sind – außer die Überstellung solcher Sprengköpfe an Belarus – nicht bewegt worden. Sie sind nicht für einen bald bevorstehenden Einsatz vorbereitet.

Ein derartiges vertikales Eskalationsszenario lässt besonnene Beobachter davor mahnen, die ukrainische Armee mit Waffen auszustatten, mit der sie befähigt werden könnte, die russischen Truppen von der Krim zu vertreiben. Sie plädieren daher für moderatere Kriegsziele als sie die ukrainische Führung zumindest in öffentlichen Aussagen verfolgt. Mit der Lieferung der F-16 Kampfflugzeuge nähert sich die Ukraine diesem Ziel nur an; damit erreichen kann sie dieses Maximalziel aber nicht.

 

Dieser Kommentar ist am 25.8.2023 auf focus.de erschienen.

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Wohin gehen die russisch-türkischen Beziehungen?

Putin war einer der ersten Gratulanten als Erdogan im Mai erneut zum türkischen Präsidenten gewählt wurde. Er nannte ihn einen „lieben Freund“. Russland hatte auf Erdogans Wahlsieg gesetzt. Zwischen Putin und Erdogan gibt es seit vielen Jahren eine enge Beziehung; beide teilen eine ähnliche Auffassung über autoritäre Herrschaft und personalistischer Politik. Beide Länder ziehen Vorteile aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die Türkei ist in der russischen Bauwirtschaft stark präsent, exportiert Obst und Gemüse nach Russland und die türkische Tourismuswirtschaft profitiert von den russischen Gästen. Im türkischen Energiesektor ist Russland ein wichtiger Akteur. Gazprom ist ein wichtiger Versorger der Türkei mit Erdgas; Russlands RosAtom baut im türkischen Akkuyu ein großes Nuklearkraftwerk.

Russland umgekehrt findet in der Türkei einen der letzten verbliebenen europäischen Kunden im Gasgeschäft. Gazproms Gasleitungen (Blue Stream und Turk Stream) bringen russisches Gas nicht nur in die Türkei, sondern auch nach Südosteuropa. Auch für die russische Rüstungsindustrie gab es Geschäftsmöglichkeiten mit der Türkei. Seit Ausbruch des Krieges ist aber vor allem die Weigerung der Türkei relevant, die westlichen Sanktionen gegen Russland mitzutragen. Über die Türkei laufen auch (wenn auch immer weniger) bedeutsame Parallelimporte Russlands. Sanktionierte Güter werden von türkischen Unternehmen aus den westlichen Staaten verstärkt eingekauft und nach Russland weiter exportiert.

Trotzdem gibt es zwischen Russland und der Türkei auch geopolitische Konflikte. Beide Länder verfolgen konträre Interessen in Syrien, in Libyen und im Südkaukasus. In Syrien drängte die Türkei für viele Jahre auf die Absetzung von Machthaber al-Assad, Russland hingegen stützte ihn bei der Niederschlagung des bewaffneten Aufstandes. Im bürgerkriegsgeplagten Libyen unterstützte Russland General Haftar, die Türkei dessen Gegner – finanziell und militärisch. Im Konflikt zwischen Armenien und Azerbaijan hat die türkische militärische Unterstützung Azerbaijans zu einer völligen Machtverschiebung in der Region zu Lasten Russlands geführt. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern kann denn auch als „kontrollierte Rivalität“ bezeichnet werden.

Diese Zweckgemeinschaft zwischen Russland und der Türkei bekommt nun deutliche Risse. Erdogan hat den ukrainischen Präsidenten Selenskij  herzlich empfangen. Gerüchten zufolge wird die Türkei Haubitzen an die Ukraine liefern. Eine Vereinbarung über den Bau von türkischen Bayraktar TB2 Drohnen in der Ukraine wurde unterzeichnet. Ein wirklicher Affront gegenüber Russland war aber die Überstellung von 5 ukrainischen Kriegsgefangenen an die Ukraine; Mitglieder und Kommandeure der neonazistischen Formation Azov waren darunter. Russland hatte diese Kriegsgefangenen an die Türkei überstellt, verbunden mit der Auflage, dass sie nicht an die Ukraine übergeben werden.

Dazu kommt, dass Erdogan zugesichert hat, den Weg für die Mitgliedshaft Schwedens in der NATO freizumachen. Es ist zwar nicht so, dass man in der russischen Führung davon ausgegangen wäre, die Türkei würde den Beitritt Schwedens dauerhaft blockieren. Jetzt aber reiht sich diese türkische Haltungsänderung in eine Reihe von rezenten Schritten ein, die in Russland mit Argwohn aufgenommen werden. Steht die Türkei vor einer Wiederbelebung seiner Annäherung an den Westen? Geht der türkische Sonderweg, der diese Nähe zwischen Moskau und Ankara möglich gemacht hatte, zu Ende?

Es ist davon auszugehen, dass die Beziehungen der Türkei zu Russland für Erdogan weiterhin wichtig bleiben. Die beiderseitig vorteilhaften Beziehungen sind zu attraktiv. Beide Länder brauchen einander. Aber die Zeit, in der die türkische Führung noch einen Sonderweg mit Russland gegangen ist, dürfte vorbei sein.

In der russischen Führung redet man die neuen Entwicklungen klein und hält an der bisherigen Politik gegenüber der Türkei fest. Im russischen Parlament, der Staatsduma, und bei der russischen nationalistischen Rechten, nehmen aber die Stimmen zu, die die Einstufung der Türkei als „unfreundliches Land“ fordern. Ein solcher Schritt wäre für Russland aber ein Eigentor. Dazu wird es auf absehbare Zeit nicht kommen. Sollte es im August zu dem angekündigten Besuch Putins in der Türkei kommen, werden die weiteren Entwicklungslinien im bilateralen Verhältnis erkennbarer sein.

 

Dieser Kommentar ist am 14.7.2023 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/lieber-freund-erdogan-wendet-sich-von-putin-ab-eine-zweckgemeinschaft-bekommt-risse_id_199083855.html)

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Putins Krieg? Russlands Krieg?

Russlands Überfall auf die Ukraine war zunächst zweifellos eine persönliche Entscheidung von Vladimir Putin, getragen von außenpolitischem Revisionismus und historischem Revanchismus. Gleichzeitig wäre es völlig irreführend anzunehmen, dass es zu keinem Krieg gekommen wäre, wäre Putin nicht mehr an der Macht gewesen. Madeleine Albright, frühere US Secretary of State, meinte einst: „Putin ist ein kluger, aber auch ein böser Mensch“. Das mag sein, aber es ist völlig verkürzt, die russische Außenpolitik Russlands zu personalisieren. Hinter der aggressiven Außenpolitik, die Russland spätestens seit 2008 verfolgt, steht ein breiter Konsens unter den Eliten des russischen Militär- und Sicherheitssektors. Misstrauen gegenüber dem Westen, das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein und die Auffassung, Russland habe das Recht, als Großmacht in Teilen seiner historischen Grenzen wiederzuerstehen, eint dieses Lager.

Von diesem Konsens ausgenommen sind natürlich die Wirtschafts- und Finanzexperten in der Regierung und auch ein Großteil der Unternehmerschaft in Russland. Beide Akteure aber spielen für die Entscheidungsfindung in der Außen- und Sicherheitspolitik des Landes nahezu keine Rolle.

Es ist daher nicht zutreffend, dass der rechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine nur „Putins Krieg“ ist; es ist ein Krieg, den die allermeisten in der Führungsriege befürworten. Der russische Überfall ist damit jedenfalls ein Krieg der gesamten Sicherheits- und Militärelite des Landes.

Hoffnungen oder gar Erwartungen, nach dem Ausscheiden Putins aus dem Präsidentenamt – durch Rücktritt, Tod oder Absetzung – werde ein Nachfolger eine radikale Kursänderung vornehmen, sind daher gänzlich unangebracht. Wie immer Putin aus dem Amt scheiden wird, der Nachfolger wird aus demselben Milieu kommen, das für diese fatale Kriegsentscheidung verantwortlich ist. Kein Nachfolger würde die Kapitulation Russlands unterzeichnen. Es gibt in Russland auch nicht einen westfreundlichen Akteur, der auch nur den Hauch einer Chance hätte, die Macht im Staat zu übernehmen.

Auch im Inneren ist derzeit keine Liberalisierung zu erwarten. Putins Nachfolge wird sein Erbe fortsetzen: eine durch Angst, Repression und Propaganda vorangetriebene Atomisierung der Gesellschaft; Unterdrückung von politischem Dissens; zentralistische Staatsführung; ein autoritärer Führungsstil und die gleiche Missachtung gegenüber (demokratischen) Institutionen wie Putin sie zeigt. Das Erbe ist auch eine apathische, resignative und schulterzuckende Bevölkerung. Durch Inhaftierung oder erzwungenes Exil fehlt in einer Nach-Putin-Ära auch die personelle und organisatorische Grundlage für eine neue Demokratiebewegung.

Angesichts dieses repressiven Drucks der Staatsführung nach Innen ist es auch weitgehend unzulässig, davon zu sprechen, dass der Überfall auf die Ukraine ein „russischer Krieg“ sein, verstanden als Krieg, der von wesentlichen Teilen der Bevölkerung aktiv unterstützt würde. Es ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, die diesen Krieg aktiv unterstützt. Ein viel größerer Teil der Bevölkerung nimmt diesen Krieg schulterzuckend zur Kenntnis; sie sind seit langer Zeit resignativ und erwarten sich von der Staatsführung keine Wende zum Besseren. Ein anderer Teil der Bevölkerung  versteht zwar nicht, warum dieser Krieg geführt wird, denkt sich aber, Putin als weiser Zar werde schon wissen, was er tut.

Eine Minderheit der Bevölkerung, die „kreative Klasse der besser verdienenden, besser gebildeten und urbanen Bevölkerung lehnt diesen Krieg ab. Harte Zensurgesetze und Angst vor physischen Übergriffen des Staates lässt diesen Protest aber nicht sichtbar werden. Zudem sind viele aus dieser Bevölkerungsschicht mittlerweile im Ausland, haben Russland verlassen. Es wäre daher völlig ungerecht zu behaupten, das sei ein Krieg des ganzen Russland. Völlig unzulässig wäre es, die Invasion der Ukraine als „Krieg der Russen“ zu bezeichnen. Manche Kommentatoren haben aber dennoch immer wieder auf die angeblich volle Mitverantwortung des russischen Volkes verwiesen. Das nährt gezielt russophobe Haltungen und führt dazu, dass viele mit russischer Kultur nichts mehr zu tun haben wollen.

Nein, dieser Krieg ist der „Krieg der russischen Herrschaftskaste“, der große Teile der russischen Bevölkerung in Geiselhaft nimmt. Ein Umstand, der auch nicht verschwinden wird, wenn Putin einmal von der Macht verdrängt werden sollte.

 

Dieser Text ist am 11.7.2023 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/ausland/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-warum-der-ueberfall-auf-die-ukraine-viel-mehr-als-nur-putins-krieg-ist_id_198794688.html)

Photo credit: https://asia.nikkei.com/Politics/Ukraine-war/Russia-s-annexations-in-Ukraine-echo-prelude-to-World-War-II-in-Europe2

 

Medvedevs Wehklagen.

Er zählt seit Langem zu den größten Kriegshetzern Russlands. Er war Präsident des Landes, lange Jahre Ministerpräsident und seit 2020 stv. Vorsitzender des, Putin beratenden, Sicherheitsrates Russlands. Der Mann ist Dmitrij Medvedev. Einst wurde er als „American boy“ verhöhnt, weil er als Präsident eine Annäherung Russlands an den Westen befürwortete. Er war auch derjenige, der damals die umfassende Modernisierung Russlands forderte. Für kurze Zeit schien er Hoffnungsträger für eine Liberalisierung Russlands zu sein.

Medvedev zählt zum innersten Kreis der russischen Führung. Er ist Putin gegenüber seit Jahrzehnten loyal gewesen, verdankt aber seine Stellung im Kern der Machtelite ausschließlich Putin. Putin zu gefallen, ist daher die dringlichste Aufgabe Medvedevs. Das erklärt zum Teil, die aggressiven Äußerungen Medvedevs zum Ukrainekrieg. Andererseits muss Medvedev auch danach trachten, in der Ära nach Putin – wann immer diese beginnen wird – auch ohne die Patronage des Präsidenten im Kern der russischen Machtelite zu bleiben. Das erklärt einen weiteren Teil der Kriegshetze. Medvedev versucht dringlich, das Image eines westfreundlichen Liberalen zu zerstören. Er will den nationalistischen Organen der Staatsmacht gefallen – den Geheimdiensten und den Militärs. Es gibt aber auch Beobachter, die meinen, Medvedev habe ein ungeklärtes Verhältnis zum Alkohol; dieses erkläre die aggressiven, zum Teil absurden Tiraden.

Medvedev verbreitet seine Tiraden vor allem auf Telegram, aber auch Twitter und in der russischen Medienplattform Vkontakte. Im Zentrum seiner Hetze steht immer die „Naziregierung“ in Kiev und der angebliche Versuch des „kollektiven“ Westens, Russland zu zerschlagen, in seine Einzelteile aufzuspalten und die russische Zivilisation zu zerstören. Beide Kernargumente sind auch immer wieder mit Drohungen verbunden, Russland werde im Krieg in der Ukraine nicht davor zurückscheuen, nukleare Waffen einzusetzen. Medvedev orientiert sich damit am offiziellen Narrativ, das die russische Führung gegenüber der eigenen Bevölkerung immer modifiziert und anpasst.

Die jüngste Äußerung Medvedevs ist ein langer Kommentar in der russischen Regierungszeitung „Rossijskaja gazeta“. Wieder beschwört er, dass Russland sich in einem existentiellen Konflikt mit dem Westen befinde. Diese „totale Konfrontation“ werde lange dauern, macht er (ohnehin unberechtigte) Hoffnungen auf eine Annäherung gleich zunichte. Er registriert einen „tektonischen Bruch“, der global über die Vorstellungen von der Zukunft erfolgt sei. Den Westen bezeichnet Medvedev als „zweifellos völlige Idioten“. Dann kommt sie wieder – seine Liebe zu nuklearen Drohungen. Medvedev meinte ein globaler nuklearer Krieg sei nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich. Dies aber sei ein Krieg, der keinen Gewinner kennen werde.

Medvedev behauptet auch, Russland habe nie versucht, die NATO einzudämmen. Nur Teile der früheren Sowjetunion sollten nicht aufgenommen werden sei die russische Forderung gewesen. Ersteres widerspricht den russischen Forderungen nach verbindlichen Sicherheitsgarantien, die im Dezember 2021 vorgelegt wurden. Da wurde von der NATO der Verzicht auf jede weitere Ausdehnung verlangt.

Russland sei aber bereit, nach „vernünftigen Kompromissen“ zu suchen. Darin sieht er aber westliche Zugeständnisse, die nicht nach Kompromissen klingen: Es dürfe kein „anti-Russland“ mehr geben; gemeint ist damit die Ukraine. Die russischen Interessen müssten maximal (!) berücksichtigt werden. Dann wird Medvedev wieder brüsk und fordert, das „Kiever Naziregime“ müsse „vernichtet werden“. „Weggeworfen wie ein faules Stück Schmalz in den Mülleimer der Weltgeschichte.“ Der Westen müsse das akzeptieren, wenn er ein „apokalyptisches Ende unserer Zivilisation“ verhindern will. Das also sieht Medvedev als einen möglichen Kompromiss an? Er selbst sieht sich aber ohnehin nicht als Optimisten.

Diese Abhandlung Medvedevs ist zwar wieder voll mit kruden Anschauungen und Behauptungen; seine sonstigen verbalen Hassreden sind milder ausgefallen. Auch wenn er den Europarat, den Internationalen Strafgerichtshof und die OSZE als „Freaks“ bezeichnet. Man sollte nicht zu viel Alkohol trinken.

 

Dieser Kommentar ist am 6.7.2023 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-nach-atom-drohung-gibt-experte-einblicke-in-gedankenwelt-von-putins-ober-hetzer_id_198281045.html)

Photo credit: https://www.nachrichten.at/politik/aussenpolitik/die-welt-ist-krank-russlands-ex-praesident-medwedew-warnt-vor-neuem-weltkrieg;art391,3823344

 

 

 

 

Nukleare Versuchung

Versteckte oder offene russische Drohungen, im Krieg gegen die Ukraine auch nicht vor dem Einsatz von Nuklearwaffen zurückzuschrecken, gab es schon zu Beginn des Überfalls. „Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn unser Land, unser Volk zu bedrohen, muss wissen, dass Russlands Antwort sofort erfolgen und für euch solche Folgen haben wird, wie ihr sie in eurer Geschichte noch nie gehabt habt.“ Die nukleare Drohung Putins war damit auf dem Tisch. Seitdem waren derartige Drohungen immer wieder zu hören.

Die russische Nukleardoktrin vom Juni 2020 sieht den Einsatz von Nuklearwaffen für den Fall eines nuklearen Angriffs auf Russland und seine Alliierten vor, aber auch im Rahmen eines konventionellen Konflikts, in dem die Existenz des russischen Staates auf dem Spiel stehe. Putin erklärte im Herbst 2022 implizit, der Einsatz nuklearer Waffen sei auch möglich, wenn die territoriale Integrität Russlands bedroht sei. Nachdem die russische Führung völkerrechtwidrig die ukrainischen Regionen Donezk, Lugansk, Zaporizhia und Cherson als Teil Russlands sieht, stellt sich die Frage, ob eine erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Armee in diesen Regionen ein nukleares Inferno auslösen könnte.

Ich bin nicht dieser Ansicht. Die Möglichkeit des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen gibt es aber zweifellos dann, wenn die ukrainische Offensive die russische Kontrolle der Krim gefährden würde. Das Risiko einer nuklearen Eskalation steigt also mit der Reichweite tatsächlicher ukrainischer Kriegsziele. Die Führung in Kiyv erklärt die Rückeroberung des gesamten Territoriums, das seit 2014 verloren gegangen ist, als Kriegsziel; die Rückeroberung der Krim ist darin eingeschlossen. In diesem maximalistischen Kriegsziel wird die Ukraine auch von den nord- und osteuropäischen Ländern unterstützt.

Ein Verlust der Krim und der Hafenstadt Sevastopol würde aber wohl mit dem Sturz Putins einhergehen. Putin will und muss daher ein solches militärisches Desaster seines Überfalls unbedingt vermeiden. In einem solchen Szenario wird der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen durchaus möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Dieses Eskalationsrisiko muss von der westlichen Politik bearbeitet und berücksichtigt werden.

Diejenigen, die das maximalistische Kriegsziel der Ukraine unterstützen, reden die Gefahr einer nuklearen Eskalation klein. Die russische Seite bluffe nur und wolle Angst und Unsicherheit in den Bevölkerungen westlicher Staaten erzeugen. Der Westen solle sich also nicht selber abschrecken, d.h. aus Angst vor einer nuklearen Eskalation die Unterstützung der Ukraine begrenzen. Mag sein, dass diese Stimmen recht haben. Aber ist es angesichts der katastrophalen Konsequenzen des Einsatzes von Nuklearwaffen nicht inakzeptabel, es darauf ankommen zu lassen, ob die russische Führung nur blufft? Ich denke nein.

In einer derartigen Konstellation ist es durchaus respektabel, Angst vor einer katastrophalen Eskalation zu haben und daher nur moderatere Kriegsziele der Ukraine zu unterstützen – wie etwa das Zurückdrängen der russischen Invasoren auf die Frontlinie vor dem 2022 entfesselten Krieg. Westliche Staaten sagen immer geschlossen, nur die Ukraine könne und solle die Kriegsziele in diesem Abwehrkampf bestimmen. Das klingt zunächst verständlich und geboten. Hinter den Kulissen gibt es im Westen aber sehr wohl Streit darüber, zu welchen Kriegszielen die Ukraine mit welchen westlichen Waffen befähigt werden soll. Letztlich ist es damit der Westen, der über die erreichbaren Kriegsziele entscheidet. Er sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein.

Zu betonen ist allerdings trotzdem, dass außer den verbalen Drohungen derzeit (!) nichts auf einen Einsatz taktischer Nuklearwaffen hindeutet. Keine einzige dieser Waffen wurde aus ihrem Lager herausgeholt und bewegt. Wenn das passiert, dann würde das Risiko des Einsatzes dieser Waffen steigen. Russland könnte damit immer noch nur bluffen. Aber wer, der politische Verantwortung trägt, wollte und sollte es darauf ankommen lassen?

 

Dieser Kommentar ist als Gastbeitrag am 24.6.2023 auf focus.de erschienen.

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Putins bizarre Planlosigkeit

Es grenzte schon an Arbeitsverweigerung. Lange Zeit hatte sich Vladimir Putin nicht mehr zum Krieg geäußert, den er mutwillig entfesselt hatte. Zur „speziellen Militäroperation“ natürlich, so noch immer die Sprachregelung in Russland. Vor wenigen Tagen hat sich Putin dann mit den Kriegskorrespondenten russischer Medien getroffen und ausführlich zum Krieg gesprochen. Gesagt hat er dabei fast nichts, nichts Konkretes jedenfalls.

Das zeigte schon seine Antwort auf die Frage eines Journalisten, ob sich an den Kriegszielen Russlands etwas verändert habe. Putin hatte dazu keine bzw. widersprüchliche Antworten. Er sprach zwar von Anpassungen der Kriegsziele, dann aber wieder davon, dass sich die grundlegenden Ziele nicht geändert hätten. Putin wörtlich: „Nein, sie ändern sich je nach aktueller Lage, aber im Ganzen ändern wir natürlich nichts, sie haben für uns grundlegenden Charakter.“ Er erklärte aber eben nicht, was denn nun seine Pläne in diesem Krieg sind, welche konkreten Ziele erreicht werden sollen. Putin wollte oder konnte sich nicht festlegen. Führungsleistung schaut anders aus. Die Unterredung wurde im russischen Fernsehen direkt übertragen; es gibt sicherlich zahlreiche russische Bürger, die auf die Kriegsziele gerne eine konkrete Antwort gehabt hätten.

Im Gespräch verneinte Putin die Notwendigkeit einer neuerlichen Mobilisierung von Reservisten. Jedenfalls nicht zur gegebenen Zeit. Ob es dazu kommt, hänge von den russischen Zielen ab. Diese definiere er selbst. Aber darüber hatte er ja nichts gesagt. Bei bestimmten Zielen, die der russische Bürger aber nicht erfahren darf, könnte es eine Mobilisierung geben. Erneut ein verwirrendes Zaudern Putins in einer sehr wichtigen Angelegenheit.

Gefragt nach einem möglichen russischen Vorstoß, sollte die ukrainische Gegenoffensive abgewehrt werden könne, konnte auch der geneigte Zuseher nur noch ungläubig den Kopf schütteln. Denn was Putin dazu gesagt hat, war schlichtweg wirr: „Wir haben Pläne unterschiedlicher Art je nach der Situation, die dann entstehen wird, wenn wir es für erforderlich halten werden, etwas zu tun.“ Ähnlich unklar äußerte sich der seltsame Präsident zur Frage, was die Führung gegen die militärischen Angriffe auf russische Grenzgebiete unternehmen werde. Putin meinte, möglicherweise könnte durch die russische Armee eine Pufferzone auf ukrainischem Gebiet geschaffen werden. Man werde aber nicht sofort damit beginnen, sondern – Sie ahnen es – abwarten, wie sich die Lage entwickeln werde.

Putin zeigte sich bisweilen nicht oder falsch informiert. Er war aber völlig zufrieden mit dem bisherigen Kriegsverlauf. In der russischen Führung wird behauptet, der „kollektive Westen“ führe gegen Russland einen totalen Krieg; im Gespräch mit den Journalisten aber nannte er die westlichen Länder „verlöschende Gesellschaften“. Also keine Gefahr, der Westen wird an sich selbst scheitern und das mutige, entschlossene Russland nicht besiegen können.

Am Ende der Unterredung war wohl nur einer zufrieden – Putin selbst. Den Bürgern blieb Putin alle Antworten schuldig. Er hat Russland in diesen Krieg gestoßen, den er sich gar nicht „Krieg“ zu nennen getraut. Was in wenigen Wochen erfolgreich vorüber sein sollte, geht nun in den 16. Monat unerbittlicher Kämpfe. Strategisch hat Russland diesen Krieg – gemessen an den anfänglichen Zielen – längst verloren. Dutzende Tausend russische Soldaten sind gefallen. Aber Putin findet in dieser Situation keine richtigen Worte, erhoffte Führungsstärke und klare Ansagen bleiben aus. Putin wollte nichts über seine Pläne verraten. Vielleicht weiß er auch selbst nicht, was er in den nächsten Monaten tun will. Das wäre verheerend. Aber diesem seltsam anmutenden, alternden Führer, der sich beständig windet, ist auch das durchaus zuzutrauen.

Dieser Kommentar ist als Gastbeitrag am 17.6.2023 auf focus.de erschienen.

Photo credit: https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/putins-treffen-mit-militaerbloggern_id_196642749.html