Habt keine Angst, ich habe auch keine!

Aleksej Navalnij ist tot! Er hielt sich für unbesiegbar, trotzte den brutalen Haftbedingungen, der Aussichtslosigkeit auf Freiheit und der ständigen Isolation in Einzelhaft. Er war nicht unbesiegbar. Aber das wusste er auch. Er war eine Ikone der Hoffnung auf ein anderes Russland. Hoffnung wider jede Hoffnung, weil Navalnij wohl erst nach einem Umsturz aus dem Gefängnis kommen hätte können. Der aber war und ist nicht in Sicht.

Natürlich ist der Tod ein Schlag für die Opposition in Russland. Allerdings kann von einer organisierten liberalen Opposition ohnehin nicht mehr gesprochen werden. Putin hat seit 2020 die personellen und institutionellen Grundlagen dieses Dissenses beseitigt. Es war ja nicht nur Navalnij in Haft; auch andere liberale Aktivisten sind es: Vladimir Kara-Murza, Ilja Jaschin oder Andrej Pivovarov. Die anderen führenden liberalen Politiker befinden sich im Exil; sie haben Russland aus Angst um ihre Freiheit und ihr Leben verlassen. Zudem wurde das organisatorische Rückgrat der liberalen Opposition mit der Einstufung von Navalnijs „Stiftung zum Kampf gegen die Korruption“ als „extremistisch“ zerschlagen. Eine Säuberung hat Putin auch unter NGOs und liberalen Medien durchgeführt. Es gibt nun niemanden, der den liberalen Dissens sammeln und artikulieren könnte. Putin hat mit der repressiven Regierungsführung den Raum der Opposition zu einer Wüste gemacht; es ist nicht wahrscheinlich, dass aus diesem Wüstenboden bald ein neuer Keim wachsen könnte.

Navalnij war in Russland aber eine kontroverse Person. Politisch sozialisiert wurde Navalnij in der Bürgerrechtspartei Jabloko; er wurde aus dieser aber ausgeschlossen, weil er rechtsradikale Ansichten zu vertreten begonnen hat. Von nordkaukasischen Muslimen als Kakerlaken war da die Rede, von zentralasiatischen Migranten als Karies am gesunden Volkszahn. Schon lange bemühen sich viele Beobachter, das als längst vergangene Irrung abzutun. Aber Navalnij hat sich davon niemals distanziert oder gar dafür entschuldigt; im Gegenteil: In zwei Interviews 2017 und 2020 hat er seine frühere Haltung bekräftigt. Das sollte beachtet werden, wenn sich Kommentare nun darin übertreffen, Navalnij zu idealisieren. Mit rechten Losungen konnte Navalnij aber keine große Zahl an Anhängern mobilisieren. Daher wandte er sich dem Kampf gegen die Korruption zu – ein systemisches Übel des russischen Staates. Damit konnte er eine größere Reichweite in der Bevölkerung erzielen; schließlich ist fast jeder Bürger täglich mit Korruption konfrontiert.

Navalnij war aber auch ein erstaunlich mutiger Mann, der sich von seinen Zielen auch nicht durch Gerichtsprozesse, Mordversuche oder Lagerhaft hat abbringen lassen. Er war ein schlagfertiger und witziger Aktivist gegen Putin und seine Staatsmacht. Er war aber nicht der Anführer der liberalen Opposition, als der er in westlichen Medien oft bezeichnet wurde. Eines der Merkmale der liberalen politischen Landschaft der letzten 30 Jahre ist ihre Zersplitterung und Fragmentierung gewesen. Es gab zu viele Rivalitäten und Eifersüchteleien zwischen den verschiedenen Aktivisten. Jeder wollte Anführer der liberalen Opposition werden. Navalnij war auch kein Einiger; er hat andere liberale Politiker bisweilen hart kritisiert. Navalnij war aber sicher das charismatischste und mobilisierungsstärkste Gesicht des Widerstands in Russland. Niemand nutzte die sozialen Medien so gekonnt und geschickt wie er.

Er war aber auch eine polarisierende Person: Umfragen der letzten Jahre zeigen, dass er Zustimmung, aber auch Widerspruch auslöste. Wenn die Umfragedaten des Levada-Zentrums, das die russische Führung als „ausländischen Agenten“ einstuft, stimmen, lehnten mehr Russen seine Tätigkeit ab, als ihm zustimmten. Ihn kannten allerdings die meisten russischen Bürger. Putins Weigerung, jemals seinen Namen zu nennen, konnte ihn nicht aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verbannen.

Beeindruckend ist es, dass nicht wenige Russen öffentlich um Navalnij trauern. Sie legen Blumen nieder am Solowezki Stein und an der Mauer der Trauer – Gedenkstätten für die Opfer der Repression Stalins. Aber es ist nicht nur Trauer, sondern auch ein Zeichen des Widerstands. Es sind zugleich wenige und viele. Wenige, wenn wir bedenken, dass Moskau und Petersburg Millionenstädte sind; viele, wenn man bedenkt, dass diese Menschen hohe Risiken auf sich nehmen, wenn sie ihre Trauer öffentlich bekunden. Die Polizei geht auch massiv gegen sie vor. Die Regierung will zum einen durch Festnahmen abschreckend wirken; andererseits darf die Polizei auch nicht zu brutal auftreten, weil die Stimmung dann kippen und mehr Menschen auf die Straße gehen könnten.

Abschließend ist zu sagen, dass Navalnij im Westen meist zu sehr idealisiert und überschätzt wurde. Idealisiert im Hinblick auf sein Weltbild, überschätzt, was seine Relevanz und Wahrnehmung in Russland selbst betroffen hat. Das darf aber nicht schmälern, dass er ein mutiger und furchtloser Mensch war.

 

Photo credit: https://www.ndtv.com/world-news/analysis-what-about-alexei-navalny-terrified-vladimir-putin-to-the-core-5085024

 

Dieser Text ist als “Kommentar der Anderen” in der Tageszeitung der Standard am 20.2.2024 erschienen.

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