Nuklearer Bluff?

Alle warten auf die Frühjahrsoffensive der ukrainischen Armee. Unterschiedlich sind die Ansichten der Militärexperten, wie sehr oder wenig erfolgreich der militärische Vorstoß sein wird. Klar ist allerdings das Kriegziel der ukrainischen Führung – es ist maximalistisch. Selenskij hat wiederholt erklärt, dass das gesamte von Russland besetzte Territorium zurückerobert werden soll, also inklusive der Krim und der Hafenstadt Sevastopol. Das ist ein nachvollziehbares, aber kühnes und vielleicht unmögliches Unterfangen.

In diesem Kriegsziel wird die Ukraine von den nordischen und osteuropäischen Staaten unterstützt, ebenso auch durch das Vereinigte Königreich. Sollte die ukrainische Armee aber militärisch in die Lage kommen, den russischen Zugriff auf die Krim in Gefahr zu bringen, warnen nicht wenige im westlichen Europa vor einer harten militärischen Eskalation. Dies deshalb, weil unbestritten ist, dass ein Verlust der Krim für die russische Führung eine desaströse Kriegsniederlage wäre. Eine Niederlage, die Putin politisch wohl nicht überleben würde. Daher will und muss Putin ein solches Szenario unbedingt verhindern.

Putin könnte auf die Bedrohung der Krim mit einer horizontalen oder, schlimmer noch, mit einer vertikalen Eskalation reagieren. Eine horizontale Eskalation wäre der Versuch, zusätzliche Länder als aktive Streitparteien in den Krieg hineinzuziehen. Die vertikale Eskalation hingegen wäre der Einsatz von taktischen nuklearen Waffen durch die russischen Streitkräfte.

Eine horizontale Eskalation kann als weniger wahrscheinlich gelten, weil die russische Armee mit einer zusätzlichen Front völlig überlastet wäre. Nicht unbedingt wahrscheinlich, aber durchaus möglich hingegen ist der russische Einsatz von Nuklearwaffen bei dem drohenden Verlust der Krim. Ziel eines solchen Einsatzes wäre, die ukrainische Führung zu einem Abbruch ihrer Offensive zu zwingen. Dabei ist nicht klar, ob Russland damit militärische oder zivile Ziele angreifen würde.

Die Unterstützer der maximalistischen Position meinen, die immer wieder geäußerten impliziten Drohungen der russischen Führung, nukleare Waffen einzusetzen, sei nur ein Bluff. Die russische Seite wolle Angst und Verunsicherung schüren, um damit die Unterstützung der Bevölkerungen der westlichen Staaten für die Ukraine zu brechen. Der Westen solle sich nicht selbst abschrecken, argumentieren die Kriegsmaximalisten.

Es kann sein, dass Russland nur blufft. Aber angesichts der katastrophalen Konsequenzen eines Nuklearwaffeneinsatzes wäre es doch besser, sich nicht darauf zu verlassen, dass es nur ein Bluff ist.

Daher wäre im Westen dringlich eine Diskussion darüber nötig, mit welchen Waffenlieferungen die ukrainische Armee wozu befähigt werden soll. Die westlichen Staaten betonen immer wieder, sie würden die Ukraine finanziell und militärisch unterstützen, „as long as it takes“. Aber was ist mit diesem „it“ gemeint? Ein maximalistisches Kriegsziel, oder doch ein Verzicht auf die Rückeroberung der Krim.

Kritiker werden meinen, meine Position wäre moralisch unhaltbar und würde die Souveränität der Ukraine nicht völlig anerkennen. Das ist nicht ganz unrichtig, aber angesichts eines nuklearen Risikos befinden wir uns in einem moralischen Dilemma. Manche machen es sich leicht und meinen, es sei das souveräne Recht der Ukraine, ihre Kriegsziele zu bestimmen. Aber das stimmt realistisch natürlich nicht: Die Entscheidung des Westens darüber, welche Waffen er der Ukraine liefert, bestimmt auch die erreichbaren Kriegsziele. Das ist die bittere Wahrheit.

 

Dieser Kommentar ist am 10.5.2023 auf der Website der Zeitschrift der Freitag erschienen (paywall).

Photo credit: https://www.japantimes.co.jp/news/2023/03/26/world/russia-tactical-nuclear-weapons-explainer/

One thought on “Nuklearer Bluff?”

  1. Deshalb brauchen wir Friedensbemühungen!

    International Summit for Peace in Ukraine 2023 – ISPUkraine 2023 – Peace by peaceful means (peacevienna.org)
    10./11,Juni im ÖGB-Catamaran in Wien

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.