Arm stirbt stiller.

Putin schickt absichtlich arme Angehörige nicht-russischer Minderheiten in den Krieg in der Ukraine. Das ist ein grober Befund der Untersuchung verifizierter gefallener Soldaten aus Russland. Zurecht wird dabei darauf verwiesen, dass die Todesrate bei nicht-russischen Minderheiten um ein Vielfaches höher liege als bei ethnischen Russen. Doch wie begründet sich das?

Wie in anderen Staaten auch, sind die russischen Streitkräfte vor allem für sozial schwache, oft auch arbeitslose junge Männer eine Karriereperspektive. Als Berufssoldat (kontraktnik) zu arbeiten, hilft beim sozialen Aufstieg. Gerade in ärmeren Regionen, in denen der Durchschnittslohn erheblich niedriger ist als im Landesschnitt ist die Armee daher ein attraktiver Arbeitgeber. Der Sold für die Berufssoldaten liegt deutlich höher als der generelle Lohndurchschnitt. Die russischen Streitkräfte ziehen daher arme, jüngere Männer an. In den einkommensstarken Regionen, allen voran in Moskau oder Petersburg, gibt es dieses Motiv für den vertraglichen Einstieg in die Armee nicht oder nur kaum.

Es sind also vermutlich junge Männer aus wirtschaftlich strukturschwachen Regionen, die einen überproportionalen Anteil an den russischen Berufssoldaten ausmachen. Allerdings ist einzuräumen, dass wir keine belastbaren Daten über die ethnische und soziale Zusammensetzung der russischen Armee haben. Das gilt in Russland als Staatsgeheimnis. Natürlich aber stellen die ethnischen Russen (79,8 Prozent der russischen Bevölkerung) trotzdem den dominanten Anteil an den Berufssoldaten; diese Dominanz ist im Offizierskorps vermutlich noch stärker ausgeprägt.

Armut und nicht-russische Nationalität geht dabei oft, aber nicht immer, miteinander daher. Männer aus dem armen nordkaukasischen Dagestan, aus den sibirischen Regionen Tuva und Burjatien, sind daher auch die größte Gruppe der in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten. Die höchste Gefallenenrate weist dabei Dagestan auf. Hohe Gefallenenzahlen gibt es auch in der ethnisch russisch dominierten Region Astrachan; dort sind es überproportional Soldaten kasachischer Nationalität, die ihr Leben verlieren.

Ein weiterer Faktor, der im Hinblick auf die Gefallenenzahlen zu erwähnen ist, ist die höhere Geburtenrate bei vielen nicht-russischen Minderheiten – vor allem bei muslimischen Minderheiten. Dadurch ist auch die Zahl der potentiellen Rekruten höher als in den von niedrigen Geburtenraten gekennzeichneten slawischen Bevölkerung Russlands.

Es wäre aber falsch zu behaupten, dass Angehörige vieler, kleiner Minderheitenvölker nur armutsbedingt so große Gefallenenraten im Ukrainekrieg aufweisen. Ethnisch russischer Chauvinismus und eine gewisse Geringschätzung mancher ethnischer Minderheiten ist auch Ursache, warum gerade Minderheiten verstärkt in die vordersten Linien des Zermürbungskrieges in der Ostukraine geschickt werden. Arme Minderheiten sind also nicht nur wegen der armutsbedingt relativ höheren Attraktivität als Berufssoldat zu dienen, überproportional Opfer. Sie sind es auch, weil sie in riskanteren militärischen Manövern eingesetzt werden. Die Soldaten ethnischer Minderheiten sind nach unbestätigten Angaben auch in der stark gefährdeten Infanterie der russischen Armee im Einsatz.

Ein weiterer Grund ist, dass Soldaten aus Regionen fernab der Ukraine von den Kommandeuren lieber dorthin geschickt werden, weil es viel weniger verwandtschaftliche Bindungen gibt als zwischen ethnischen Russen und ethnischen Ukrainern.

Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum die Zahl der Gefallenen in den russischen Metropolen, allen voran in Moskau und Petersburg auffällig niedrig ist. Die großen russischen Städte weisen den größten Anteil an regimekritischen und zu Demonstrationen und Widerstand mobilisierbaren Bürgern auf. Die Furcht der russischen Führung ist wohl, dass hohe Sterbezahlen von Rekruten aus diesen Städten Proteste auslösen und den Duck auf die Regierung verschärfen könnten. Arm stirbt still, Mittelschicht stirbt lauter. Das gilt grundsätzlich, wenn es auch in einigen nicht-russisch dominierten Regionen lokale Proteste gegen die hohe Zahl der Gefallenen gegeben hat. Diese lokalen Proteste bleiben für die Regimestabilität in Russland letztlich aber unbedeutend. Von den Ende Juli verifizierten Gefallenen – das waren 5.185 Soldaten – kamen nur 11 aus Moskau und nur 35 aus Petersburg. Söhne der Eliten sind da keine dabei. Dagegen sind es verifizierte 257 Gefallene aus Dagestan und 223 aus Burjatien.

Das gilt grundsätzlich, wenn es auch in einigen nicht-russisch dominierten Regionen lokale Proteste gegen die hohe Zahl der Gefallenen gegeben hat. Die Organisation „Asiaten Russlands“, die sich grundsätzlich für Minderheitengruppen einsetzt, führt kleine Demonstrationen gegen den ethnisch verzerrten Einsatz russischer Soldaten im Ukrainekrieg durch. Diese lokalen Proteste bleiben für die Regimestabilität in Russland letztlich aber unbedeutend.

Aufgrund aller genannten Faktoren werden die Gefallenenraten bei vielen ethnischen Minderheiten weiterhin überproportional hoch sein. Manche Beobachter sprechen von einer „rassistischen Armee“. Das ist wohl deutlich überzogen, aber Armut und ethnischer Minderheitenstatus sind als wichtige Faktoren bei den Opfern des Krieges nicht zu leugnen.

 

Dieser Text ist als Gastbeitrag unter dem Titel “Warum der Kreml arme, nichtrussische Kämpfer an die Front schickt” am 12.8.2022 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-warum-der-kreml-arme-nichtrussische-kaempfer-an-die-front-schickt_id_134379181.html)

Photo credit: https://breakingdefense.com/2022/05/russian-troops-held-me-captive-at-gunpoint-for-two-weeks-in-ukraine-heres-what-i-learned/

 

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