Die Liste ist lang. Seit vielen Jahren gibt es immer wieder Gerüchte über den Gesundheitszustand von Vladimir Putin. Seit dem Ausbruch des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine haben sich diese Gerüchte deutlich vermehrt. Eine lange Liste von angeblich unheilbaren Krankheiten Putins lässt sich daraus erstellen. Von Leukämie, einem Hirntumor, Schilddrüsenkrebs und Parkinson bis zu den Gesundheitsfolgen eines angeblichen Attentats auf den russischen Präsidenten im März dieses Jahres ist die Rede.
In den sozialen Medien wird besonders darüber spekuliert, aber auch in den Boulevardmedien – allen voran in den britischen Tabloids. Belege gibt es bei keiner dieser Meldungen. Alle berufen sich wie immer auf „verlässliche Quellen“. Natürlich kann Putin unheilbar erkrankt sein. Ich gebe aber zu bedenken, dass Putin schon seit mindestens 10 Jahren immer wieder mit todbringenden Erkrankungen in Zusammenhang gebracht wird. Bisher scheint er alles überlebt zu haben. Außer man glaubt einem weiteren Gerücht, Putin sei längst tot und werde seitdem durch einen Doppelgänger vertreten.
Wer aber hat Interesse, solche Gerüchte zu streuen? Zunächst einmal die Medien, die sie verbreiten. Dramatische Meldungen über den nahen Tod einer umstrittenen Person führen zu einer höheren Lesezahl. Klicks sind für werbeabhängige Medien eben unabdingbar. Für andere mag es Wunschdenken sein, diesen Schlächter“ mit dem Tod bestraft sehen zu wollen.
Um vieles relevanter aber ist, dass solche Gerüchte auch von Nachrichtendiensten gestreut werden (könnten). Vor allem westliche Geheimdienste – und natürlich auch der ukrainische Geheimdienst SBU – sind mutmasslich daran beteiligt. Die Absicht dahinter: Es sollen Gerüchte in den sozialen Medien verbreitet, Unsicherheit und Unruhe ausgelöst werden. Putin ist in Russland zwar auch eine kontroverse Figur, aber seine Gegner sind in der Minderzahl. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist Putin aus verschiedenen Motiven und Gründen die starke Hand, der Zar, der alle politischen Fäden im Land kontrolliert und Russland zusammenhält. Gerüchte über sein baldiges Ableben sollen diese Bevölkerungsgruppen verunsichern. Fragen, was mit Russland wohl nach Putin geschehen wird, tauchen dann auf. Inmitten einer schweren Krise soll Zukunftsvertrauen geschwächt werden. Für das Lager der Putin-Gegner sind solche Gerüchte hingegen kleine Hoffnungsschimmer, dass der Tyrann bald nicht mehr sein werde und Russland in eine neue, bessere Zukunft steuern würde.
Aber diese von Geheimdiensten gestreuten Gerüchte sollen natürlich nicht nur auf die russische Bevölkerung wirken. Sie sollen auch die politischen und wirtschaftlichen Eliten verunsichern. Russland wird seit Langem von einem – von Putin geführten und dominierten – Elitenkartell regiert. Diese von russischen Politologen als „Politbüro 2.0“ oder als „kollektiver Putin“ bezeichnete Realität bedeutet, dass Putin die zahlreichen, mit- und untereinander zerstrittenen Fraktionen, ausbalanciert und alle zusammen durch staatliche Pfründe hinter sich vereinigt, Diese Gruppen wirken an den Entscheidungen der russischen Führung mit. Zugleich aber sind sie in ihrem Einfluß und in ihrem materiellen Vermögen auch von der Gunst Putins abhängig. Wenn der Herrscher nun plötzlich versterben sollte, würden heftige Kämpfe in dieser kollektiven Führung auftreten, wer Putin nachfolgen solle und wer welche Pfründe behalten oder verlieren wird. Geheimdienste streuen daher solche Gerüchte, um Unruhe und Unsicherheit auch in den russischen Führungseliten zu verbreiten. Bruchlinien in der Führung, Nachfolgekämpfe sollen dadurch befeuert werden.
Abschließend muss ich einräumen, dass Putin tatsächlich unheilbar erkrankt sein könnte. Er wird sicher sterben – die Frage ist nur wann.
Dieser Kommentar ist am 15. Juni 2022 auf focus.de erschienen.
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