Ist Russland eine Großmacht?

Russlands Überfall auf die Ukraine ist auch das Ergebnis der russischen Haltung, als Großmacht das Recht auf eine Einflusssphäre zu haben. Natürlich haben sich alle Großmächte Einflusssphären geschaffen. Manche durch Attraktivität und Anziehungskraft (EU in Osteuropa), andere durch Zwang und Druck (Russland in Osteuropa). Der russische Anspruch, als Großmacht das Recht zu haben, die Außenpolitik seines ukrainischen Nachbars mitzubestimmen, ist also nicht grundsätzlich überraschend. Die Frage, die sich aber stellt ist, ob Russland zurecht beanspruchen kann, eine Großmacht zu sein?

Um den Status einer Großmacht zu erringen, braucht es natürlich nicht nur das Selbstverständnis als Großmacht. Unabdingbar sind die materiellen Grundlagen eines solchen Anspruchs, aber auch die Rollenzuschreibung durch andere Großmächte. Stützt sich das russische Selbstverständnis, eine Großmacht zu sein, denn auf solide materielle Grundlagen?

Militärisch ist Russland zweifellos eine Großmacht. Russland besitzt die meisten nuklearen Sprengköpfe, hat viele davon qualitativ deutlich modernisiert, neue Nuklearwaffen entwickelt und gebaut und ist jedenfalls zu einem vernichtenden Vergeltungsschlag bei einem nuklearen Angriff auf das eigene Territorium in der Lage. Strategische Nuklearwaffen dienen aber der Abschreckung und sind keine Waffen, mit denen Kriege geführt werden (sollten). Nichts deutet darauf hin, dass Russland dies anders sieht.

Obwohl die konventionellen Streitkräfte seit 2009 auch erheblich modernisiert worden sind, wurde deren angebliche Schlagkraft durch die Misserfolge und schleppenden Vorstöße in der Ukraine doch erheblich entzaubert. Die Armee hat zwar eine Sollstärke von 900.000 Soldaten, aber einen konventionellen Krieg gegen die NATO würde Russland verlieren. Russland hat auch nur einen winzigen Bruchteil an ausländischen Militärbasen, wenn wir das Land mit den USA vergleichen.

Wirtschaftlich und finanziell ist der russische Großmachtanspruch nicht begründbar. Der Anteil am globalen BIP zu Kaufkraftparitäten ist seit Jahren rückläufig. Mit 2,92 Prozent vor dem Beginn der Pandemie erreichte Russland damit nur ein Fünftel der Leistung der USA und nur ein Sechstel des BIP Chinas. Russland ist außerhalb des Rohstoffsektors und der Rüstungsindustrie keine wettbewerbsfähige Handelsmacht. Aber gerade weil Russland vor allem eine rohstoffexportierende Volkswirtschaft ist, ist diese sehr verwundbar durch externe Schocks wie Nachfragesenkung oder Preisverfall. Auch im technologischen Wettbewerb – gemessen etwa an Patentanmeldungen – ist Russland keine Großmacht. Russland hat(te) viele hochqualifizierte Fachkräfte, aber viele haben gerade in den letzten Monaten das Land verlassen. Mit dem Überfall auf die Ukraine und den dadurch ausgelösten Sanktionen und ihre Folgewirkungen wird die Wirtschaft auch um Jahrzehnte zurückgeworfen. Der Krieg macht Russland ärmer.

Mit dem ständigen Sitz im Sicherheitsrat mit Vetorecht besitzt Russland grundsätzlich erhebliche politische und institutionelle Macht. Aber westliche Militärinterventionen auch ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat haben deutlich gemacht, dass diese Position Russlands in den Vereinten Nationen ausgehebelt werden kann. Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine wird Russland auch viel Ansehen und Gestaltungsmacht in anderen internationalen Organisationen verlieren.

Russland hat auch wenig weiche Macht. Das globale Image Russlands war auch vor dem Ukrainekrieg nicht sonderlich gut. Wegen des Krieges ist das Ansehen Russlands bislang um 20 Prozent zurückgegangen. Russlands Attraktivität als Rollenmodell ist international sehr gering.

Russland ist daher nur eine sektorale Großmacht. Außerhalb des militärischen Sektors kann der Großmachtanspruch Russlands nur schwer begründet werden. Durch den Ukrainekrieg wurde aber zumindest die konventionelle militärische Schlagkraft deutlich geschwächt. Es wird viele Jahre dauern, bis die russische Armee wieder die Stärke von vor dem Ukrainekrieg zurückgewinnen kann. Der Krieg mag Russland territoriale Gewinne bringen. Der Preis aber ist hoch – die langandauernde Schwächung des Landes. Das ist ganz im Sinn anderer Großmächte.

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