Gedanken zu Navalnij

Navalnij ist trotz der Androhung der Verhaftung nach Russland zurückgekehrt, weil er damit das Kalkül und die Erwartungen Putins durchkreuzen wollte. Nach dem missglückten Attentat hoffte man in der russischen Führung, Navalnij würde im Ausland bleiben und aus Sorge um sein Leben nicht mehr nach Russland zurückkommen. Für Navalnij aber ist klar, dass er ein bedeutender Faktor der russländischen Politik nur sein kann, wenn er im Land arbeitet. Es gibt einige Putinkritiker, die das Exil gewählt haben oder ins Exil gezwungen wurden; sie alle sind für den Diskurs der russländischen Opposition irrelevant. Hätte Navalnij das Exil angenommen, wäre er in Russland immer mehr vergessen worden.

Der Umstand, dass Navalnij zurückkehrte ist Zeugnis für seinen Mut und seine Unerschrockenheit. Es ist auch Ausdruck des Sendungsbewusstseins, das Navalnij in sich trägt: er denkt, er habe die historische Aufgabe in Russland einen Regimewechsel herbeizuführen, mit ihm als dem neuen Machthaber.

Das Attentat hat Navalnij international bekannter gemacht und die Solidarität mit ihm wachsen lassen. Das hat sich die russländische Führung selbst zuzuschreiben. Navalnijs Schicksal wurde auch zu einem Streitpunkt in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Putin ist das aber wohl gleichgültig, da er ohnehin keine Besserung der Beziehungen zur EU und den USA erwartet. Je mehr westliche Politiker die Freilassung von Navalnij fordern, umso leichter kann Putin ihn als nützlichen Idioten oder als 5. Kolonne des Westens bezeichnen.

Das Attentat hat Navalnij in Russland deutlich bekannter gemacht und die Zustimmung zu seiner Tätigkeit wachsen lassen. Aber immerhin noch 18 Prozent der Bevölkerung haben von Navalnij noch nie gehört. Navalnij polarisiert auch die russische Bevölkerung. Zwar ist die Zahl der Russen, die Navalnij mögen gestiegen; aber der Wert liegt noch deutlich unter dem Wert derjenigen, die seine Arbeit ablehnen. Es ist auch bezeichnend, dass nach einer Umfrage des Levada-Instituts im Dezember nur 15 Prozent der Befragten daran glauben, dass Navalnij durch den russländischen Staat vergiftet wurde. Etwa 50 Prozent glauben daran, dass Navalnij die „Vergiftung“ inszeniert habe oder dass westliche Geheimdienste dahintersteckten. Das zeigt deutlich, wie stark die meinungsbildende Kraft staatlicher und befreundeter Fernsehsender und andere Medien noch immer ist.

Wird Navalnij nach dem Gerichtsprozess nun lange inhaftiert werden? Die russländische Führung ist diesbezüglich nicht geschlossen. Die Siloviki sind der Ansicht, dass eine lange Haftstrafe, während der Navalnij nach außen völlig abgeschottet wird, seinen Nimbus verblassen lassen könnte. Der Sicherheitsapparat ist entschlossen, Navalnij als Bedrohung auszuschalten – mit welchen Mitteln auch immer. Die Liberalen hingegen fürchten bei einer langen Haftstrafe die Radikalisierung der Opposition in Russland, eine Belastung für die Legitimität der gegenwärtigen Führungen und neue Sanktionen des politischen Westens. Sie befürworten, zur Strategie vor dem Attentat zurückzukehren: Navalnij zu marginalisieren, ihn zu diskreditieren und ihn in der Furcht vor einer Haftstrafe zu belassen. Vielleicht wäre das auch wirklich möglich, aber das Risiko dabei ist, dass Navalnij mit seiner größeren Akzeptanz in der russischen Bevölkerung zu einem gefährlicheren Gegner der russländischen Führung werden könnte. Die Entscheidung darüber wird wohl auch davon abhängen, ob es zu Massenprotesten gegen die Inhaftierung Navalnijs kommen wird oder der Protest nur kleine Menschenmengen mobilisieren wird.

Der Umstand, dass Navalnij mit der Veröffentlichung des Videos über “Putins Palast” gleichsam die nukleare Option gezündet hat – ein direkter Angriff auf Putin -, macht es aber nicht wahrscheinlicher, dass Navalnij nur kurz in Haft bleiben wird.

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