Russland und Europa. Eine Gefährdung?

Russland ist eine revisionistische Macht, die gewaltbereit und risikoaffin versucht, die regionale Sicherheitsordnung in Europa zu verändern. Russland versteht sich dabei als reaktiv revisionistische Macht, die auf die Strategie der liberalen Hegemonie des politischen Westens mit roten Linien antwortet und seine Interessenssphäre zurückgewinnen oder zumindest bewahren möchte. Die westliche Strategie habe Russland an den Rand gedrängt und seine Interessen missachtet, als es wirtschaftlich und militärisch schwach war. Der Krieg in Georgien im August 2008, wie auch die Besetzung und Annexion der Halbinsel Krim und der Stadt Sevastopol waren Ausdruck dieser gewaltbereiten strategischen Widerstandshaltung. Die Landnahme der Krim war ein eklatanter Bruch der Sicherheitsordnung in Europa, die mit der Charta von Paris 1990, zumindest konzeptionell, angestrebt wurde. Die gewaltsame Grenzänderung war die zweite nach 1945; die Unabhängigkeit des Kosovo 2008 war dem vorausgegangen.

Die Europäische Union, die mit Russland in einer Integrationsrivalität um die Ukraine gestanden war, reagierte darauf mit einem Sanktionsregime, das Russland bestrafen, Russland die Ablehnung seiner Handlungen signalisieren und seine Machtentfaltung beeinträchtigen sollte. Eine Verhaltensänderung Russlands in der Ukraine wurde damit nicht erreicht.

Die NATO wiederum schien mit der Ukrainekrise 2014 eine neue raison d’être gefunden zu haben; es war ein sinnstiftendes Ereignis, das einer ins Wanken geratenen „NATO mit global reach“ den Rückgriff auf die alte Funktion der Territorialverteidigung erlaubte. Abschreckung und Verteidigung wurden wieder zu den Kernaufgaben der NATO. Dabei geht die NATO von einer potentiellen territorialen Gefährdung ihrer östlichen Frontstaaten aus. Die NATO müsse militärisch und logistisch auf einen Angriff Russlands auf das Baltikum oder Polen vorbereitet sein. Luftüberwachung, multinationale Verbände in den baltischen Staaten, flexiblere militärische Antworten auf ein Krisenszenario sollen eine tripwire-Funktion erfüllen. Begleitet wird dies durch die European Deterrence Intiative der USA, im Rahmen derer in Polen eine Brigade von US-Soldaten stationiert ist.

Planungen und Vorkehrungen für einen möglichen Bündnisfall sind zweifellos notwendig. Ist das Szenario einer russischen (verdeckten) Invasion in den baltischen Staaten aber realistisch? Kaum! Das Vorgehen Russlands in der Ukraine lässt sich nicht einfach auf die Ostfront der NATO übertragen. In der Ukraine operiert(e) Russland in einem bündnisfreien Staat mit äußerst schwachen Streitkräften. Die Bevölkerung stand den Invasoren mehrheitlich positiv gegenüber. Zwar gibt es auch in den baltischen Staaten russische Minderheitsbevölkerung; die meisten von ihnen sind aber froh darüber, in einem Mitgliedsland der EU zu leben. Eine russische Invasion könnte daher allenfalls auf die Passivität der russischen Einwohner zählen. Wichtig aber ist, dass ein russischer Angriff auf die baltischen Staaten den Bündnisfall der NATO auslösen wurde. Russland würde sich damit auf eine Eskalation des Konfliktes einlassen, die letztlich unberechenbar sein könnte. Das gilt nachgerade dann, wenn die baltischen Territorien von der NATO militärisch nicht verteidigt werden könnten. Das wichtigste Argument, warum eine russische Invasion in diesen Staaten unwahrscheinlich ist, ist aber, dass die russische politische und militärische Elite die Zugehörigkeit des Baltikums zur NATO längst abgehakt hat.

Ein wichtiger Faktor für das Verhältnis Europas zu Russland im Sicherheitsbereich ist zweifellos das Scheitern des 1987 unterzeichneten Vertrages über Intermediate Nuclear Forces (INF), der für Russland und die USA ein Verbot landgestützter ballistischer Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.000 km vorsieht. Dieser Vertrag ist nach der Kündigung durch die USA am 2. August 2019 rechtsunwirksam geworden. Gerade diese Waffenkategorien waren für die nukleare Verwundbarkeit Europas essentiell gewesen. Die US-Administration hatte Russland vorgeworfen, mit dem Bau, dem Test und der Stationierung eines nuklearfähigen bodengestützten Marschflugkörpers (russische Bezeichnung: 9M729, Novator) mit verbotener Reichweite den INF-Vertrag verletzt zu haben. Russland hat dies dementiert und meldete seinerseits Vorbehalte gegenüber der INF-Kompatibilität der Abschussvorrichtung Mk-41 VLS der von der NATO in Rumänien und Polen onshore stationierten Abfangraketen des US-Raketenabwehrsystems in Europa an. Die Abschussvorrichtung sei auch für den Abschuss der seegestützten BGM-109 Tomahawk Marschflugkörper einsetzbar. Weder die USA noch Russland hatten in den letzten Jahren wirkliches Aufklärungsinteresse gezeigt. Antrieb der Vertragskündigung der USA waren wohl mehr die Kapazitäten Chinas in dieser Waffenkategorie, als die russische Vertragsverletzung.

Sollten die Vorwürfe der USA an Russland zutreffen – Beweismaterial wurde nicht offengelegt -, ist Russland dann erneut ein Gefährder europäischer Sicherheit. Die russischen Streitkräfte würden diese Systeme wohl zum Angriff auf Raketenabwehrbasen und kritische Infrastruktur einsetzen. Gemessen an den Fähigkeiten wäre Russland damit ein Gefährder europäischer Sicherheit; in der Sicherheitspolitik sind Fähigkeiten entscheidend, nicht Intentionen; denn Intentionen können sich ändern. Auf EU Territorium gerichtete russische Mittelstreckensysteme sind eine Bedrohung. Offen ist, wie die Reaktionen darauf letztlich ausgerichtet sein werden. Die NATO hat deutlich gemacht, dass sie darauf keine symmetrische Antwort geben wird, d.h. es werden keine nuklearfähigen Raketen oder Marschflugkörper in Europa stationiert werden. Nicht ausgeschlossen aber wurde die Stationierung konventionell bestückter Systeme. Die USA testen bereits bodengestützte ballistische Raketen.

Um einen Rüstungswettlauf zu verhindern, sollten sich Europa und Russland in einem sachlichen Dialog darauf verständigen, dass der Marschflugkörper Novator nicht westlich des Ural stationiert werden soll. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich die russische Führung darauf einlassen wird, aber es ist auch nicht ausgeschlossen. Das wäre eines der Themen eines wiederbelebten Dialoges der EU und der NATO mit Russland.

Russland wird auch als Gefährder der Informationssicherheit Europas und der Integrität der elektoralen Prozesse in den Staaten der EU gesehen. Als gefährdet wird auch die kritische Infrastrtuktur angesehen, aber diese Bedrohungen sind keine Einbahnstraße. Es gibt eben auf beiden Seiten nicht nur cyber defence, sondern auch cyber offence. Einwandfreie wissenschaftliche Belege für diese Gefährdung der Informationssicherheit gibt es nur teilweise. Aus Nachrichtendienstkreisen werden keine Belege veröffentlicht.

Ist Russland auch ein Gefährder der Energiesicherheit Europas im fossilen Brennstoffsektor? Russland hat zweifellos einen großen Marktanteil in der EU mit seinen Öl- und Gasexporten. Mehr als 40 Prozent des von den EU-Staaten importierten Gases kommen aus Russland. In vielen Staaten ist die Abhängigkeit von russischem Gas sehr hoch oder total. Dabei steigt die Importabhängigkeit der EU bei Erdgas noch immer an. Russland exportiert sein Erdgas vorrangig in die EU, den Westbalkan und die Türkei. China ist nun als neuer Abnehmer dazugekommen. Die Kassandra-Rufe, die EU wäre ein „Gefangener von Russland“, sind aber unangebracht. Zwar ist die Importabhängigkeit groß, aber für Russland ist der europäische Markt unverzichtbar. Nahezu alle Gasleitungen aus Russland führen nach Europa. Nüchtern betrachtet ist daher eine symmetrische Dependenz zu konstatieren.

Trotzdem sehen einige EU-Staaten – Polen, die baltischen Staaten u.a. – und die Europäische Kommission in den zwei Leitungssträngen von Nord Stream 2 entweder ein Risiko für die Versorgungssicherheit der osteuropäischen Länder oder ein geopolitisches Projekt, das sich wirtschaftlich maskiere. Tatsächlich ist Nord Stream 2, genauso wie Nord Stream 1 und die Gasleitung Turkstream, die durch das Schwarze Meer in die Türkei führt, eine Umgehungsleitung, die die dominante Stellung der Ukraine im russischen Gastransit weiter schmälern soll. Der Ukraine entgehen damit hohe Transitgebühren. Es ist aber gleichzeitig auch ein Projekt, das wegen der direkten Verbindung zwischen Russland und Deutschland Transitrisiken ausschaltet. Das ist der signifikante finanzielle und geopolitische Nutzen für Russland; für Deutschland ist es vorteilhaft, das russische Gas, das über die Nord Stream 1 und 2 Leitungen nach Deutschland transportiert wird, in Europa zu verteilen und damit ein noch stärkerer gas hub zu werden.

Nord Stream 2 hat auch zu inneuropäischen Verwerfungen geführt. Letztlich konnte ein Kompromiss mit der Abänderung der Gasrichtlinie erreicht werden, der die Leitung den Auflagen des europäischen Binnenmarktes unterwirft. Im Verbund mit osteuropäischen EU-Staaten schwingt sich die USA zum schärfsten Gegner der Gasleitung in der Ostsee auf. Im Dezember 2019 hat der US Kongress als Zusatz zum National Defence Authorization Act alle Unternehmen mit Sanktionsdrohungen belegt, die an der Errichtung von Nord Stream 2 beteiligt sind. Die Röhrenverlegungsfirma All Seas hat ihre Arbeiten daraufhin umgehend eingestellt. Im Juli 2020 hat US-Außenminister Pompeo nun die Ausnahmeregelung für Nord Stream 2 unter dem Sanktionsgesetz CAATSA (Countering American Adversaries Through Sanctions Act) ausgesetzt, wodurch Unternehmensinvestitionen und Bankkredite sanktionsgefährdet sind. Das stellt eine beispiellose und schamlose Einmischung der USA in die Energiepolitik der EU dar.

Nach Ansicht der USA füttere Deutschland mit dieser Gasleitung Russland, gegen das es gleichzeitig von den USA beschützt werden wolle – so die Argumentation der Administration. Die USA verfolgen aber zwei zentrale Ziele mit den Sanktionsdrohungen: Zum einen soll der Marktanteil Russlands auf dem europäischen Gasmarkt verringert werden, was auf eine Schwächung Russlands hinausläuft. Zum anderen sollen die US-Exporte von Flüssiggas (LNG) nach Europa deutlich gesteigert werden. Dabei ist dieses Schiefergas ökologisch sehr bedenklich und auf absehbare Zeit deutlich teurer als Leitungsgas aus Russland. Das ist eine schwere Belastung und macht deutlich, dass der transatlantische Verbund nicht immer ein Beitrag für die europäische Autonomie und Sicherheit ist.

Letztlich kann Russland derzeit nicht als Gefährder der europäischen Sicherheit eingestuft werden. Russland ist aber ein Faktor der Instabilität und der Unsicherheit, dem es mit Vorsicht zu begegnen gilt.

Dieser Text ist als Kommentar in der Zeitschrift “International” erschienen.

Foto: http://www.leseuronautes.eu/gehoert-russland-zu-europa/

2 thoughts on “Russland und Europa. Eine Gefährdung?”

  1. Eine hervorragende und logisch aufgebaute Zusammenfassung.
    Eine Anmerkung sei mir aber erlaubt:
    LNG (liquefied natural gas) ist nicht Flüssiggas, sondern tiefkalt unter Druck verflüssigtes Erdgas, also im Wesentlichen Methangas. Das wäre in diesem Aufsatz zu verbessern.
    Flüssiggas (LPG, liquid petrol gas) hingegen ist ein Propan-Butan-Gemisch, das in Raffinerien hergestellt wird.
    LNG fällt nicht nur beim Fracking (bei der Schiefergasgewinnung) an, sondern ebenso bei konventionellen Öl-/Erdgasvorkommen.
    Unbestreitbar hat aber das unselige Fracking der USA (und Kanadas) dazu geführt, dass bereits Obama im Zuge der Ukraine-Krise der EU “großzügig” angeboten hat, dass die USA Europa im Falle eines längeren Ausfalls der Russlandlieferungen (via Ukraine) mittels Schiff(!!!) versorgen könne. Dazu muss man wissen, dass horrende Mengen von Risikokapital der Wall Street in den Fracking-Firmen stecken, und das bei anhaltend niedrigen Öl-/Gaspreisen!
    Nicht zu vergessen auch, dass das mit der von den USA forcierten Nabucco-Pipeline konkurrierende russische Projekt South Stream (Gazprom/OMV – Endpunkt Hub Baumgarten, Österreich) seitens der USA verunmöglicht wurde, indem man Rumänien trotz bereits bestehender Verträge (mit wie viel Geld eigentlich?) dazu brachte, seine Durchleitungsgenehmigung bezüglich der Pipeline zu widerrufen.

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