Die russische Sicht auf den Krieg

Vernichtungsfantasien prägen häufig den nationalistischen russischen Diskurs. Die Vernichtung der Ukraine und europäischer Staaten mit russischen Nuklearwaffen wird in den Meinungsrunden im staatlichen Fernsehen immer wieder, immer noch bizarrer gefordert. Wir in Europa sollten aber nicht angstbesetzt auf diese Drohungen starren. Diese Äußerungen sind für die politische Führung Russlands völlig irrelevant. Sie sind daher nicht als neue Zielvorgaben eines russischen militaristischen Expansionismus zu verstehen, sondern vorrangig als der Versuch, der russischen Bevölkerung deutlich zu machen, dass Russland als Nuklearmacht nicht besiegt werden könne. Das lässt bisweilen die Rückschläge an der ukrainischen Front vergessen.

Die russische Armee konnte schon lange keine wichtigen Eroberungen mehr in der Ukraine erzielen. Schon im Herbst 2022 wurden die russischen Besatzer aus der Region Charkiv und dem Westufer des Dnipro in der Region Cherson vertrieben. Mit immensen Verlusten an Soldatenleben und an Rüstungsmaterial konnte die russischen Kräfte die völlig zerstörte Stadt Bachmut erobern (Mai 2023), aber seitdem hat sich die Frontlinie kaum bewegt. Zwar versucht die russische Armee in den Regionen des Donbass ukrainische Verteidigungslinien zu durchbrechen; damit wurden aber bislang nur geringe territoriale Geländegewinne erreicht.

Die russische Führung hat im Laufe dieses Krieges ihre Ziele deutlich revidieren müssen. Die Absicht, in Kiev einen moskaufreundlichen Anführer an die Macht zu bringen und die Ukraine in den russischen Hinterhof zurückzuholen, mussten sehr rasch aufgegeben werden. Das nachfolgende Ziel, die ukrainische Armee aus dem Donbass zu vertreiben und die gesamte Schwarzmeerküste zu erobern, wurde auch nicht erreicht. In der russischen Führung ist man mittlerweile zufrieden, die ukrainische Sommeroffensive zumindest an der Frontlinie weithin erfolgreich blockiert zu haben. Erobertes Gebiet in der Süd- und Ostukraine zu halten ist nun die viel bescheidenere Zielsetzung der russischen Führung.

Dieses Ziel weiterhin erreichen zu können, ist sich die Führungsriege in Moskau ziemlich sicher; auch dann, wenn der Westen in den nächsten Monaten westliche Kampfflugzeuge des Typus F-16 liefern sollte. Der Glaube, noch substanzielle und erfolgreiche Offensivoperationen durchführen zu können, ist nur noch bei wenigen vorhanden. Es gibt aber auch Stimmen, die eine russische Niederlage in der Ukraine nicht ausschließen wollen. Unterschiede gibt es dabei, ob es eine politisch bewältigbare Niederlage oder eine demütigende strategische Niederlage werden würde. Im letzteren Fall wird von diesen Personen eine Periode politischer Instabilität in Russland erwartet.

Das bringt Unruhe in die Eliten. Niemand kann sicher wissen, ob er Einfluss und Vermögen unter einem möglichen neuen Präsidenten bewahren kann.

In der russischen Bevölkerung nimmt der Anteil derer, die Friedensverhandlungen unterstützen, immer mehr zu; es sind nunmehr mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Es ist aber nicht genau geklärt, welche Verhandlungsstrategie diese Bürger unterstützen – ist es die Regierungslinie, die den Verzicht der Ukraine auf Territorium, verlangt, oder sind es konziliantere Vorstellungen.

In der Führungsriege ist man nicht zu einer Friedenslösung bereit, die nicht einem russischen Diktatfrieden gleichkäme. Nur vereinzelt gibt es Stimmen, die Verhandlungen über eine Waffenruhe für möglich, oder gar geboten halten. Diejenigen, die eine Waffenruhe unterstützen, sind sich aber nicht einig, wozu sie ausgehandelt werden sollte. Einige sehen die Waffenruhe als eine Atempause für die russische Armee, die sich neu gruppieren und neu ausrüsten müsse, um dann nach geraumer Zeit weitere Offensiven gegen ukrainisches Territorium starten zu können. Andere sehen die Waffenruhe und das Einfrieren des Konfliktes als Chance, einen Krieg zu beenden, den die russische Armee ohnehin nicht gewinnen könne.

Allerdings sind die meisten Akteure auch für die Fortsetzung des Krieges. Russland werde einen langen Krieg aushalten und finanzieren können. Der Westen werde des Krieges sicher früher müde, als die russische Seite. Insgesamt also gibt es wenig Bewegung in den russischen Zielen und Erwartungen.

 

Dieser Blogeintrag ist am 23.11.2023 auf focus.de erschienen.

4 thoughts on “Die russische Sicht auf den Krieg”

  1. Werter Prof Mangott,
    Ihre Analysen zu Russland sind sehr interessant. Sie sollten öfter in den Medien erscheinen.
    2 Fragen:
    1) Im letzten Absatz verwenden Sie den Konjunktiv und dann ist die Bedeutung mir nicht mehr klar.
    2) Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass dieser Konflikt durch politische Umwälzungen in Russland beendet wird? Wie gefährlich ist das?

  2. Schönen Tag!
    Ich habe im letzten Absatz den Konjunktiv verwendet, weil es Aussagen russischer Gesprächskontakte sind, die in indirekter Rede wiedergegeben werden.
    Eine Revolte der Bevölkerung gegen die Führung ist ziemlich sicher auszuschliessen. Eine Palstrevolte gegen Putin bei einem desaströsen Kriegsverlauf aber nicht.

  3. Sehr geehrter Herr Mangott,

    vielen Dank für Ihrer Analyse. Ich hätte eine Frage zum russischen Bedrohungspotenzial für Mitteleuropa: Der Militärexperte Christian Mölling spricht allenthalben davon, dass Putins Armee in 6 Jahren in der Lage sein könnte, NATO-Staaten anzugreifen und in 10 Jahren Deutschland. Gleichzeitig sieht es so aus, als würden die USA die Ukraine im Stich lassen und sich unter Trump womöglich sogar aus der NATO verabschieden. In dem Fall wären die europäischen NATO-Staaten, allen voran auch Deutschland, hilflos dem Aggressor ausgeliefert. Wir seien, so Mölling, gegenwärtig weder willens noch in der Lage, Putins Rüstungsvorsprung aufzuholen. Für wie realistisch halten Sie diese Einschätzungen?

    Beste Grüße aus München

    Martin Neukamm

  4. Ich teile diese Ansicht nicht. Russland wird auf lange Sicht nicht in der Lage, sein die NATO erfolgreich anzugreifen. Dieses Argument von Mölling ist nun allenthalben zu hören. Es soll suggeriert werden, dass Russland nach einem Sieg der UKraine die NATO angreifen werde, weswegen es dringlich sei, die Ukraine weiterhin militärisch zu unterstützen, um einen russischen Sieg zu verhindern.

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