Vermeintliche oder vermutete rote Linien

Die russische Führung sieht rot. Außenminister Lavrov meinte, die angekündigte Lieferung von F-16 Kampfflugzeugen an die Ukraine durch die Niederlande und Dänemark werde in Russland als „nukleare Bedrohung“ gesehen, weil mit diesem Flugzeug Nuklearwaffen transportiert werden können. In Moskau wird die Überlassung dieses Mehrzweckflugzeuges an die Ukraine als Bedrohung angesehen, die zu angeblich zu einer weiteren militärischen Eskalation führen würde. Kritiker westlicher Lieferungen von Kampfflugzeugen weisen daher auch darauf hin, dass Russland damit eine rote Linie überschritten sähe, wofür es Vergeltung üben werde. Der Krieg werde militärisch eskalieren, mahnen Beobachter.

Aber Russland kann den Krieg kaum noch eskalieren. Der Krieg ist nahezu grenzenlos eskaliert. Die eingesetzten russischen Waffen, die Zielauswahl, der Beschuss von ziviler Infrastruktur und Wohngebäuden, Schulen und Krankenhäusern, Angriffe durch Drohnen, ballistische Lenkwaffen und Marschflugkörpern auf Städte, Bahnhöfe und Flughäfen ist bereits Realität. Die nahezu einzige Möglichkeit, mit der Russland eine Eskalation des Krieges herbeiführen könnte, ist der Einsatz von (taktischen) Nuklearwaffen. Es ist aber nahezu völlig auszuschließen, dass die russische Führung dies aufgrund der Lieferung von F-16 Kampfflugzeugen tun würde. Ein Nuklearwaffeneinsatz im Krieg in der Ukraine ist nicht wahrscheinlich, aber denkmöglich. Falls dieser Fall eintreten sollte, dann nur wenn Russland vor einer desaströsen Kriegsniederlage stehen sollte – allen voran vor dem Verlust der Krim.

Die Ausrüstung mit F-16 aber ist keineswegs ein Garant für einen großen militärischen Erfolg der ukrainischen Armee. Dadurch würde die ukrainische Offensive zweifellos gestärkt. Vor allem könnte die Ukraine mit den Luft-Boden und Luft-Luft Raketen der F-16 die Dominanz der russischen Armee bei Kampfflugzeugen an der Frontlinie brechen. Das Kampfflugzeug ist für die ukrainischen Kriegsziele wichtig, aber es ist kein game-changer. Militärischer Erfolg an allen Linien ist damit keinesfalls garantiert.

Auch ukrainische Angriffe auf russische Grenzregionen wie Kursk, Brjansk, Belgorod und Rostov sowie Drohnenangriffe auf Moskau überschreiten keine russische rote Linie, die den Einsatz von Nuklearwaffen auslösen würde. Dennoch sind diese ukrainischen Angriffe für die russische Führung unangenehm. Die Ukraine will damit zwei zentrale Ziele erreichen: Zum einen soll damit der Krieg nach Russland getragen werden. Niemand in Russland solle sich mehr sicher fühlen. Der beschauliche Alltag in Moskau, der durch den Krieg bisher kaum berührt wird, soll gestört werden. Zum anderen will die ukrainische Führung den russischen Bürgern auch signalisieren, dass der russische Staat nicht imstande sei, sie vor solchen Angriffen zu schützen. Das gilt vor allem für die militärischen Schläge gegen russische Grenzregionen.

Die einzige rote Linie für Russland, die ohne nukleare Antwort nicht überschritten werden dürfte, könnte der Verlust der Krim und der Hafenstadt Sevastopol sein. Der steht aber keineswegs bevor, auch wenn sich die ukrainische Sommeroffensive in den nächsten Monaten noch erfolgreicher gestalten sollte als bisher. Es gibt daher derzeit kein Anzeichnen für die Vorbereitung eines Nukleareinsatzes. Russische taktische Nuklearwaffen sind – außer die Überstellung solcher Sprengköpfe an Belarus – nicht bewegt worden. Sie sind nicht für einen bald bevorstehenden Einsatz vorbereitet.

Ein derartiges vertikales Eskalationsszenario lässt besonnene Beobachter davor mahnen, die ukrainische Armee mit Waffen auszustatten, mit der sie befähigt werden könnte, die russischen Truppen von der Krim zu vertreiben. Sie plädieren daher für moderatere Kriegsziele als sie die ukrainische Führung zumindest in öffentlichen Aussagen verfolgt. Mit der Lieferung der F-16 Kampfflugzeuge nähert sich die Ukraine diesem Ziel nur an; damit erreichen kann sie dieses Maximalziel aber nicht.

 

Dieser Kommentar ist am 25.8.2023 auf focus.de erschienen.

Photo credit: https://en.wikipedia.org/wiki/General_Dynamics_F-16_Fighting_Falcon#/media/File:F-16_June_2008.jpg

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