Russlands Zonen vitaler Interessen

Russlands Zonen vitaler Interessen. Eine Replik auf Paul Schulmeister

Den Anspruch auf besondere Einflußzonen zu bestreiten, ist müßig. Großmächte haben Zonen vitaler Interessen. Das gilt für Russland ebenso wie für die USA, China aber auch die EU. Die Instrumente, um solche besonderen Einflusssphären zu schaffen und zu stabilisieren sind vielfältig: dazu gehören weiche Macht wie harte Macht, im Fall Russlands auch militärische Macht. Außenpolitik sollte tatsächlich normative und ethische Züge tragen; das können aber nur verantwortungs-, keine gesinnungsgenetischen Züge sein. Schon Thukydides meinte in seinem Melier Dialog: ‘Der Starke tut was er kann, der Schwache erleidet, was er müsse.‘

In der Ukraine und im südlichen Kaukasus überlagern sich die hegemonialen Ansprüche Russlands, der USA und der EU. Vitale wirtschaftliche, militärische und geopolitische Interessen aller Akteure prallen in diesen Regionen aufeinander.

Die Anstrengungen der EU, den südlichen Gaskorridor durchzusetzen, sind in deren vitalem wirtschaftlichem Interesse, aber eben auch ein Versuch, besondere Präsenz und Einfluss in der Südflanke Russlands aufzubauen. In dieser Zone vitalen Interesses ist die EU auch bereit, trotz hehrer Werte mit autoritären Regimen in Türkmenistan und Azərbaycan zusammen zu arbeiten. Die brutale Knebelung der dissidenten Kräfte in Baku wie auch Folter und Kerker in Aşgabat werden in Brüssel so verhalten wie möglich kritisiert. Das mag gute machtpolitische Gründe haben; als Beobachter aber diesen Zynismus nur bei Russland zu identifizieren, in den eigenen Reihen aber darüber hinweg zu sehen ─ wie es Schulmeister tut ─, wird rasch unglaubwürdig.

Zur Mehrung der Energiesicherheit der EU ist ohne Zweifel eine Diversifizierung der Gaslieferanten und Gasversorgungsleitungen dringlich. Das gilt für Russland als Versorger, wie auch für die Ukraine als Transitland von Erdgas. Gerade angesichts der durch die Fukushima─Tragödie entbrannten Debatte über die vermehrte Nutzung von konventionellem und unkonventionellem Gas (Schiefergas, Kohleflöze, Gashydrate) ist die Wahrung energetischer Versorgungssicherheit für die EU ein vitales Interesse. Aber auch wenn der Gasverbrauch in der EU steigen und Gas relativ zu anderen Energieträgern bedeutsamer werden sollte, wird Russland den europäischen Gasmarkt nicht dominieren. Norwegen ─ dessen Gasproduktion weiterhin stark ansteigen wird ─ liefert beinahe so viel Erdgas an die EU wie Russland. Die Versorgung aus Nord- und Westafrika kann weiter ausgebaut werden. Die Energiemärkte sind durch ein Überangebot an Flüssiggas geradezu überschwemmt. Durch den starken Ausbau von Schiefergas (shale gas) werden die USA bald zu einem Nettoexporteur von Gas. Russland ist daher nicht in der Lage, die EU mit der ‘Gaswaffe’ zu strangulieren.

Es ist auch mangelhaft unerwähnt zu lassen, dass Russland von den Märkten der EU zumindest mittelfristig stark abhängig bleiben wird. Russlands Gasexportleitungen führen (jenseits der Gasmärkte in den postsowjetischen Staaten) ausschließlich in die EU und die Türkei. Mit Ausnahme kleiner Mengen an LNG, das im fernöstlichen Sachalin gefördert und an Japan und Südkorea verkauft wird, ist Europa der einzige Abnehmer. Durch die Bindung des Gaspreises an einen Korb von Rohölderivaten erzielt Gazprom gerade auf EU-Märkten hohe Gewinne, die das Unternehmen dringend für die Erschließung neuer Gasfelder braucht.

Natürlich ist Russland daran interessiert, den Zugriff der EU auf Erdgas aus dem Kaspischen Becken – allen voran in Azerbaijan und in Turkmenistan – zu blockieren. Angesichts mittelfristiger Produktionslimite und einem hohen Binnenverbrauch benötigt Russland den Zugriff auf dieses Erdgas, und die zu möglichst niedrigen Preisen, um seine Exportverpflichtungen bedienen zu können. Aber auch China will die Erdgasproduktion in diesem Raum kontrollieren. Darüber hinaus arbeiten die EU und Russland gemeinsam daran, die mittelfristig erheblichen Gasexporte des Iran auf östliche Märkte zu drängen. Es sei auch erwähnt, dass europäische Privatunternehmen wie ENI, Electricité de France und BASF Wintershall ebenso daran interessiert sind, dass Nabucco scheitert und das rivalisierende South Stream Projekt, an dem diese Konzerne beteiligt sind, realisiert wird. Dies trifft auch zu, wenn Schulmeister auf den Widerstand Russlands gegen das ‘ownership unbundling’ der EU ─ die Trennung von Energieerzeugern und Netzbetreibern ─ verweist; diese Ablehnung teilt Gazprom nämlich mit EDF, BASF Wintershall oder E.ON Ruhrgas. Die Interessenlagen sind damit sehr viel komplexer als Schulmeister dies dargelegt hat. Nicht bloß Russland versucht also, den Südlichen Gaskorridor zu blockieren; Energieunternehmen der wichtigsten Mitgliedsländer  der EU beteiligen sich daran.

Die Ukraine wiederum ist ob ihrer geopolitischen Lage sowohl für die EU und die USA als auch für Russland eine strategische Zone. Der Wettbewerb um strategische Kontrolle über dieses Land ist scharf und zuweilen aggressiv. Diese Rivalität zu leugnen wäre absurd – für alle daran beteiligten Akteure. Russland hat seit dem Machtwechsel in Kiiv seine Interessen stärker durchsetzen können als in der Amtszeit von JušÄenko; die USA und die EU haben relativ an Einfluss verloren. Aber auch die russische Führung kann die ukrainische Elite nicht nach eigenem Willen kontrollieren und lenken. Auch ist der Versuch, die hegemoniale Kontrolle über die Ukraine zu errichten, reversibel; nicht zuletzt weil auch innerhalb der Ukraine starke Kräfte – allen voran die finanzstarken Eigentümer des Rohstoff- und Schwerindustriesektors – gegen die russische Bevormundung wirken.

Russland vorzuwerfen, die politische, wirtschaftliche und militärische Kontrolle über seine Nachbarstaaten zu erlangen, ist absurd. Alle Großmächte folgen dieser Logik – Russland eben auch. Aber ebenso ist es nachvollziehbar, warum andere Staaten diesem Kontrollanspruch mit eigenen Mitteln und Instrumenten entgegenwirken (sollten). Der russischen Hinterhofpolitik gilt es, westliche Vorhofpolitik entgegenzusetzen.

Noch ein Wort: Russland zu ‘verstehen’ als Makel zu bezeichnen ist eigenartig; Russland zu verstehen meint doch nicht notwendig, Verständnis für Russland zu haben; aber auch wer Verständnis hat, billigt trotzdem nicht unabdingbar alles. Wer aber in seinem Urteil über die Machtpolitik von Staaten auf einem Auge blind ist, verliert bald an Tiefenschärfe.

Dieser Text ist am 24. Mai 2011 in der Tageszeitung Die Presse erschienen.

Die russische Übersetzung wurde am 24.5.2011 von InoPressa veröffentlicht (http://www.inopressa.ru/article/24may2011/diepresse/nabbucco_rus.html).

5 thoughts on “Russlands Zonen vitaler Interessen”

  1. Paul Schulmeister schaut eben nur mit dem – einen – geopolitischen Auge auf Russland und bekommt damit folgerichtig nur ein zweidimensionales flächiges Bild zu sehen. Die dritte (Tiefen-)Dimension verschließt sich ihm, da er auf dem zweiten (wirtschaftlichen) Auge – selbst verschuldet – blind ist. Ansonsten müsste er unschwer erkennen, dass Russland und die EU auf dem Gassektor wechselseitig voneinander abhängig sind und für plumpe Erpressungsmanöver aus beidseitigem Interesse dabei kein Platz bleibt. Diese Erkenntnis ist allerdings bei einem der letzten fußmaroden “Kalten Krieger” längst vergangener Tage nicht zu erwarten …

  2. “selbstverschuldet blind – fußmaroder kalter krieger”…. na bravo! eine tolle (akademisch) sachliche kritik!

  3. @ ruud: Sie dürfen mit einer – akademisch angelegten – Kritik oder Verteidigung Paul Schulmeisters ergänzen, wenn es Sie darnach drängt.

  4. Wirtschaft und Politik sind engstens miteinander verflochten, das ist evident. Ich verstehe aber nicht, weshalb der wirtschaflich, militärisch und territorial Starke tun dürfe, was der Schwache zu erleiden habe. Dies folgt doch keinen normativen Zügen? Der Starke kann umgehend zum Schwachen werden, so verläuft die Argumentation im Melierdialog weiter und erhofft sich auch gleiches Recht, also handle er in dieser Situation den Schwächeren gegenüber, als seien sie ebenbürtig.
    Dieser Idealismus erfüllt sich aber nicht, auch damals im Peloponnesischen Krieg nicht.
    Die oben geschilderte Fülle an Interdependenzen wirtschaftlicher und politischer Natur verdeutlicht die Sackgasse der Konzepte, denn gehen die Ressourcen zuende, bricht dieses Gebäude auch in sich zusammen und spätestens dann stehen wir vor einem ganz anderen Paradigmenwechsel. Wobei dies kein descriptives Argument, sondern eine Hypothese ist.
    Ich glaube nicht, dass Zonen vitalen Interesses Gegenstand einer müßigen Debatte sind, denn die Berechtigung der Einflussnahme ist kein festgeschriebenes “Recht des Stärkeren”.

  5. Was für eine veränderte Welt! Heute, am 22. Juni 2011, gedenken wir des Beginns des “Unternehmen Barbarossa” vor genau 70 Jahren, als Hitler-Deutschland die Sowjetunion überfiel und der “Große Vaterländische Krieg” mit seinen 40 Millionen Opfern begann. Auch Hitler suchte im Osten “Ressourcen”, jene, die dort schon lebten, wurden zu “Untermenschen” degradiert und damit zum Freiwild für die “Herrenrasse” gemacht.
    Wollen wir Nachgeborenen uns statt dessen der wohl harmlosen gegenseitigen Gasgeschäfte und “Abhängigkeiten” erfreuen ….

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