Vor dem Einsatz einer “schmutzigen Bombe”?

Es ist ein schmutziger Krieg. Mit einer „schmutzigen Bombe“ könnte der Waffengang in der Ukraine aber noch weiter eskalieren. Die russische militärische Führung beschuldigt die Ukraine öffentlich, eine solche Bombe zu bauen und sie auch im Krieg einsetzen zu wollen. Eine schmutzige Bombe ist keine Nuklearwaffe, deren Einsatz durch Russland in den vergangenen Wochen intensiv und kontrovers diskutiert wurde. Eine schmutzige Bombe ist eine konventionelle Bombe mit großer Sprengkraft, die radioaktives Material verstreut. Es findet also keine Kernspaltung statt wie in einer Atombombe.

Je nach dem Volumen des verwendeten radioaktiven Materials und der Windlage würden durch eine schmutzige Bombe kleinere oder größere Flächen verstrahlt. Die Verstrahlung bleibt aber räumlich beschränkt; die Wirkung ist lokal. Militärisch ist ein derartiger Explosionskörper ziemlich wertlos. Die schmutzige Bombe ist eine Verunsicherungswaffe, eine Terrorwaffe, die Angst verbreiten soll. Daher ist die Forschung bisher auch davon ausgegangen, terroristische Netzwerke könnten versuchen, in den Besitz schmutziger Bomben zu gelangen und diese einzusetzen.

Es gibt keinerlei öffentliche Beweislage für den russischen Vorwurf, die Ukraine wolle eine solche Bombe einsetzen. Vielmehr wird vermutet, Russland könnte diesen Vorwurf erheben, um mit der Detonation einer eigenen schmutzigen Bombe diesen Tabubruch der Ukraine anzulasten. Manche Beobachter vermuten sogar, eine solche vorgetäuschte „ukrainische“ Eskalation könnte Russland als Rechtfertigung dafür nutzen, tatsächlich Nuklearwaffen einzusetzen.

Persönlich denke ich nicht, dass Russland auf absehbare Zeit eine solche schmutzige Bombe einsetzen wird. Wir sind nicht in einer Kriegsphase, wo dies erwartbar wäre. Russland versucht vielmehr – wie durch die impliziten Androhungen, den Krieg nuklear zu eskalieren – Angst und Unsicherheit zu verbreiten. Die Botschaft richtet sich daher vor allem an die westliche Bevölkerung. Das unverantwortliche russische Gerede soll aber auch die Reputation der Ukraine schädigen; diese Botschaft richtet sich an Staaten, die in diesem Konflikt noch keine eindeutige Position bezogen haben. Die von manchen Experten vermutete Absicht Russlands, mit derartigen Informationen westliche Regierungen spalten zu können, halt ich für sehr unwahrscheinlich. Im politischen Westen wird die Annahme, die Ukraine könnte zu einer schmutzigen Bombe greifen, von keinem Staat geteilt.

Wie hoch aber ist die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, dass Russland eine schmutzige Bombe einsetzt? Dazu ist zunächst zu sagen, dass Russland und die Ukraine sich seit Beginn des Krieges im Februar immer wieder vorgeworfen haben, den Einsatz chemischer und biologischer Waffen zu planen. Immer wieder wurde daraufhin spekuliert, Russland wolle mit seinen Vorwürfen an die Ukraine, derartige Waffen einsetzen zu wollen, den eigenen Einsatz solcher Waffen zu rechtfertigen. Trotzdem wurden weder von der Ukraine noch von Russland bislang biologische oder chemische Waffen eingesetzt. So könnte es nun auch diesmal mit dem Vorwurf einer schmutzigen Bombe sein.

Dazu kommt, dass Russland wohl kaum zunächst zu schmutzigen Bomben greifen würde, um erst später die Lage durch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen zu eskalieren. Zwar müsste Russland beim Einsatz einer schmutzigen Bombe wohl nicht mit direkter militärischer Bestrafung durch den Westen rechnen – verschärfte Sanktionen und noch weiterreichende Waffenlieferungen an die Ukraine wären wohl die westliche Antwort. Aber es macht militärisch und als Terrorwaffe viel mehr Sinn, über den angeblichen oder geplanten Einsatz taktischer Nuklearwaffen zu spekulieren.

Bemerkenswert ist, dass der Vorwurf an die Ukraine vom russischen Verteidigungsminister und dem Generalstabschef direkt in Telefongesprächen mit ihren westlichen Kollegen erhoben wurde. Das soll wohl die Dramatik in die Höhe schrauben und eine Dringlichkeit der Angelegenheit vortäuschen. Dadurch kann die Verunsicherungswirkung in den westlichen Bevölkerungen noch einmal gesteigert werden.

Letztlich wird es aber wohl bei einer unverantwortlichen verbalen Drohkulisse bleiben. Ein weiterer Akt in einem Drehbuch der Angstverbreitung. Den Einsatz einer schmutzigen Bombe werden wir im Ukrainekrieg wohl eher nicht erleben. Wie immer hoffe ich, mich nicht zu irren.

 

Dieser Kommentar ist am 27.10.2022 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/meinung/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-warum-putin-keine-schmutzige-bombe-einsetzen-wird_id_171458664.html)

Photo credit: https://www.nbcnews.com/news/world/russia-ukraine-dirty-bomb-what-to-know-rcna53844

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