Der nukleare Dammbruch

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Die Versuche, die Verbreitung militärisch-nuklearen Wissens und dessen Nutzung zum Bau nuklearer Sprengkörper durch rechtliche Barrieren − das Nichtverbreitungsregime NPT 1970/1995 − aufzuhalten, kann als gescheitert angesehen werden. Zwar wurden die atomaren Diffusionsprozesse verlangsamt, aber die Dämme drohen nunmehr zu brechen. Das militärische Arsenal Nordkoreas und die mutmassliche militärische Nuklearoption Irans werden vermutlich regionale nukleare Rüstungswettläufe auslösen, aus denen nahezu zwanzig Nuklearstaaten entstehen werden.

Die militärische counter-proliferation als alternativer Schutzmechanismus gegen nukleare Aufrüstung neuer Staaten stösst in vielen Fällen an enge Grenzen: unbekannte, unterirdische oder verbunkerte nukleare Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsganlagen, militärische Eskalationsgefahren konventioneller und nuklearer Art zählen zu den vorrangigen militärischen Risiken und Schwächen. Präzisionsschläge gegen bekannte Ziele zerstören nicht das nukleartechnische Wissen und können den Nuklearisierungsprozeß daher lediglich verzögern. Die nukleare Entwaffnung − die Zerstörung von nuklearen Fähigkeiten (capabilities) − ist ohne die Änderung des Regimes und damit seiner Absichten (intentions) nutzlos. Militärische Gegenproliferation muss daher immer den Regimewechsel als ultimatives politisches Ziel enthalten − wenn es nicht nur um letztlich unsicheren Zeitgewinn gehen soll. Regimewechsel, die in vielen Fällen massive militärische Bodenoperationen mit kosten- und zeitintensiven Stabilisierungsaufgaben einfordern, überdehnen aber verfügbare westliche Ressourcen.

Der Erwerb eines militärischen Nukleararsenals durch einen neuen Staat verändert jedenfalls die strategische Lage aller angrenzenden Staaten. Diesen stehen letztlich nur zwei Optionen offen, darauf zu reagieren − selber nuklear militärisch aufzurüsten oder aber unter den nuklearen Schutzschirm der bestehenden Nuklearmächte einzutreten.

Die letzte Option ist nicht in allen Fällen bedingungslos möglich und politisch unsicher. Wie die Abkehr der USA von der Strategie der massiven Vergeltung innerhalb der NATO intensive Debatten über das amerikanische commitment zur nuklearen Verteidigung des westlichen Europa auslöste, können die Anrainerstaaten neuer nuklearer Mächte auch nicht sicher auf den nuklearen Schutzschirm anderer Staaten, allen voran der USA, zählen.

Die Logik der neuen strategischen Lage bei vorhandenen technischen Kenntnissen und den materiellen Voraussetzungen zum Bau nuklearer Waffen (hochangereichertes Uran, Plutonium) ist für die Anrainerstaaten neuer Nuklearmächte angesichts nicht ausreichend funktionsfähiger Raketenabwehrsysteme die atomare Selbstaufrüstung.

Der Dammbruch im Nichtverbreitungsregime wird damit nahezu unweigerlich zur Proliferation nuklearer Waffen in grossem Masstab führen. Das westliche Interesse bedarf daher einer grundsätzlichen Revision: Nachdem die Verbreitung nuklearer Waffen nicht mehr zu verhindern ist, muss die nukleare Bewaffnung jener Staaten gefördert werden, die den westlichen Interessen- und Wertekanon teilen. Die Förderung nuklear bewaffneter Bündnispartner ist eine logische Folge einer grundsätzlichen Erkenntis: nicht die nuklearen militärischen Fähigkeiten eines Regimes sind die zentrale Gefahr, sondern die Absichten eines derart bewaffneten Regimes. Nukleare Waffen im Arsenal feindseliger, internationale Normen brechender, nach innen repressiver und grundsätzlich nach aussen aggressiver Terrorstaaten sind eine massive Bedrohung. Wenn diese Entwicklung aber weder rechtlich noch militärisch einzuhegen ist, bleibt als strategische Konsequenz nur die nukleare Aufrüstung der Staaten übrig, deren Absichten defensiv und mit den Interessen des Westens vereinbar sind und die über rechtsstaatlich-demokratische Mindeststandards verfügen. Die nukleare Bewaffnung befreundeter Regime verstärkt die Verteidigungskraft gegen nuklear bewaffnete Feindstaaten und − wenn die strategische Kultur der nuklearen Abschreckung als erlern- und nachahmbar angesehen wird − auch die Sicherheit der liberalen Demokratien. Zugleich ist die nukleare Abrüstung der offziellen (westlichen) Nuklearmächte derzeit als sicherheitsgefährdend anzusehen. Wenn die Staatenwelt nicht nuklearfrei sein kann, dann muss sie voll von Nuklearwaffen sein.

Diese Kommentar ist in der Zeitung ‘Die Presse’ am 5. Dezember 2006 exklusiv erschienen.

9 thoughts on “Der nukleare Dammbruch”

  1. Muss wesentlichen Teilaspekten Deiner Ausfuehrungen durchaus zustimmen, insbesondere. wenn ich davon ausgehe, dass die vorgestellten Strategien bewusst ein wenig provokant – da im breiten öffentklichen diskurs ungewohnt – ausgelegt wurden. Dennoch denke ich, dass die breite allseitige Aufrüstung ein eher unglücklicher, ja gefährlicher Weg ist…. Zunächst: “[…] muss die nukleare Bewaffnung jener Staaten gefördert werden, die den westlichen Interessen- und Wertekanon teilen.” Welche Staaten sollten dies denn sein? Ggf. Japan, und welche weiteren (mittl. Osten?)? Derzeit gemässigte Staaten mit (teil)rechtsstaatlichen, aber fragilen Strukturen wie Ägypten werden durch eine verschärfte Drohkulisse gedemütigt ins religiös fundamentalistische Lager abrutschen.  Insgesamt werden Polarisationen weiter ausgeprägt, und einer neutralen Staatsraison vom Volk die Daseinsberechtigung entzogen (Jordanien z.b.). Gegenüber Staaten, deren Völker im Gefühl der Demütigung und der Ohnmacht ein gefährliches Substrat für diktatorische Regime darstellen, verliert die nuklerae Abschreckung ihre somit alles andere als intrinsische Wirkung: Nukleare Abschreckung wirkt m.E. lediglich zwischen im wesentlichen rational handelnden Entitäten (USA, UdSSR, proc…). (Insofern wäre der Kalte Krieg nuklearstrategisch gesehen ein Glücksfall gewesen…) Zudem können delikate Bündnispartner wie Saudi Arabien ebenso die Nuklearwaffe für sich reklamieren wollen. Nach einer späteren (gar nicht so unwahrscheinlichen) Ehetrennung vom Westen weg, bis an die Zähne hochgerüstet: Keine grosse Freude für Israel – welches dann selbst zu irrationalen und fatalen Präventivmassnahmen greifen kann oder wird…  

  2. Um ein Lösung fuer die nukleare Proliferation zu finden, sollte man zur Wissenschaft kehren. "Fusion" wäre eine Möglichkeit, die Waffen der "Fission" ohnmächtig zu machen. Obwohl "Fusion" noch im Anfangsstadium steht, erscheint es mir der einzige Weg dieses massive Problem einzuhalten. Dann wäre es nicht wichtig, wer diese Waffen der "Fission" besitzt.

  3. Die Fusion steht noch unter einem Technologievorbehalt. Doch auch wenn Fusionsreaktoren der Standard der Energiegewinnung werden sollten, ändert das nichts am vorhandenen Wissen um und an der Technologie zur Kernspaltung. Die Saat ist bereits gelegt.

  4. Ich stimme den Ausführungen völlig zu, will aber darauf aufmerksam machen, dass sie implizit zwei Annahmen beinhalten, die derzeit offenkundig begründet, zumindest was die erste aber betrifft, nicht unverrückbar sind:

    Abgesehen davon, dass ich der festen Überzeugung bin, dass auch rechtliche counter-proliferation letzlich militärisch begründet ist, d.h. in der potentiellen Androhung militärischer Zwangsmaßnahmen wurzelt, halte ich auch die unmittelbare militärische counter-proliferation, die konsequenterweise einen Regimewechsel vorsieht, nicht für verwerflich: dass diese Option derzeit angesichts unzureichender westlicher (insbesondere europäischer) Ressourcen unrealistisch ist, ist unzweifelhaft richtig, dass das notwendigerweise so sein muss, glaube ich aber nicht – und verwerfe dabei keineswegs das Konzept eines liberaldemokratischen, d.h. unter anderem nicht-militarisierten Westens.

    Die zweite implizite Annahme betrifft Raketenabwehrsysteme. Könnten diese ausgebaut werden, wäre mensch wohl gegen die Auswirkungen militärisch-nuklearer Proliferation gefeit, ohne diesen durch eine – so sehr sie auch funktionieren mag, widersinnige – Proliferationsspirale entgegentreten zu müssen. Über den diesbezüglichen Stand der Technologie weiß ich aber viel zu wenig Bescheid…..uns selbst bei einer technologischen Machbarkeit bliebe ja noch der europäische politische Unwille.

    Könnte diesen derzeit wohlbegründeten Annahmen in (naher!) Zukunft ihre Grundlage genommen werden, könnte ein meines Erachtens uneingeschränkt erstrebenswerter Zustand gesichert werden: Die militärische Dominanz des Westens gegenüber seinen (wohlgemerkt, äußerst heterogenen) Widersachern – wobei mit ‘dem Westen’ weder geographische, noch ethnisch-kulturelle oder religiöse Kategorien, sondern einzig die Merkmale liberaler Demokratien (in denen obige Denkmuster eben nicht wirken, geschweige denn dominieren) assoziert werden.

  5. Es ist wohlgemerkt Faktum, dass vor allem durch den Ausstieg Nordkoreas bzw. durch die völlige Unterminierung des NPTs durch den Iran, die nukleare Dominanz der in ihren Werten westlich orientierten Staaten an Wert verliert bzw.zugrunde geht. Basierend auf der Annahme, dass die unkontrollierte Proliferation zu einem ebenso unkontrollierbaren Zustand, nämlich dem eines nuklearisierten Nahen bzw. Mittleren Ostens und der dadurch implizierten nukleartechnologischen Aufstockung der westlich orientierten Staaten führe, möchte ich folgende Anmerkungen offen legen:
    Ein solch prophezeiter „neuer kalter Krieg“, indem der Westen nicht mehr einem relativ homogenen Kontrahenten, dessen Intentionen sich noch relativ leicht vorhersagen lassen gegenübersteht, sondern er es vielmehr mit einem irrationalen in sich polarisierten System zu tun hat, muss doch implizit die Annahme vorausgeschickt werden, dass sich die involvierten Staaten in Zukunft, zumindest sukzessive, „verwestlichen“ werden. Wäre dies nicht der Fall, wäre der Westen einem Djihadismus von neuer Dimension ausgeliefert und könnte dahingehen nur verlieren. Aktuell sieht es jedoch nicht danach aus, als wollen sich islamische Staaten „verwestlichen“ lassen. Vielmehr verbreiten sich vor allem islamistische Tendenzen. Die Spekulation mit einer „Aufklärung der islamischen Welt“ erscheint momentan als hilflos. Hierfür müsste man nämlich an der Basis anfangen, und wer vermag es zu verhindern, dass in palästinensischen Kindergärten das Kasperltheater gegen eine israelisch-palästinensische Puppenschlacht substituiert wird, in dessen Ausgang konsequenterweise den Israelis die Köpfe fehlen. Antworten darauf scheinen jedoch offenkundig zu fehlen…auch mir.

  6. Glücklicherweise haben die Russen jedes Interesse daran, dass der Westen seine Feinde dominiert. Das heisst dann, dass es moeglich wäre, die Wissenschaftler aller interessierten Staaten anspuren zu koennen, um eine Moeglichkeit der Entwaffnung nuklearer Raketen zu finden. Wie jemand anderer hier erwähnte, könnte es ein Raketenabwehrsystem sein. Währe es möglich dieses System so zu gestalten, dass es wie ein Bummerang seine Ware wieder zum Ausgangspunkt zurückbringt? Es scheint mir den Versuch wert zu sein.

  7. Ich erlaube mir, zum Beitrag und den Comments 2 Punkte anzumerken:
    1) ad reaktive Proliferation: Die Feststellung, dass der NPT nicht bzw. nur äußerst eingeschränkt in der Lage ist, ein zur Entwicklung einer Nuklearkapazität fest entschlossenes Regime in der Umsetzung dieser Entscheidung zu hindern, reflektiert sicherlich die Realität des Regimes. Dennoch darf angesichts aller Negativszenarien und Abgesänge auf den NPT nicht vergessen werden, dass das NPT Regime die einzige – wenn auch lückenhafte – Möglichkeit ist, die Nuklearaktivitäten von Staaten zu überwachen. Reaktive oder gar proaktive Proliferation – da gegen "letter and spirit" des NPT verstoßend – würden das Ende des NPT Regimes besiegeln, und somit den einzigen Weg zu nuklearer Transparenz engültig verbauen.
    Diese Argument soll kein idealistische Plädoyer für den NPT sein, sondern lediglich auch einen positiven Aspekt des Regimes in Erinnerung rufen. Der NPT hat Schwächen, die durch eine effektive Gegen-proliferation (unter Anwendung aller [!] zur Verfügung stehenden Mittel) verringert werden können. Das Niederreißen des Dammes kann Löcher im Damm nicht stopfen…
    2 ad Raketenabwehr: Die Einschätzung, dass Raketenabwehrsysteme (ballistic missile defense – BMD) gegen ballistische Offensivwaffen immunisieren könnten, ist ein frommer Wunsch. Ich halte es für wenig wahrscheinlich, dass Staaten ihr Sicherheit ausschließlich in die Hände von BMD geben würden. BMD sind fehleranfällig – sollte ein BMD nicht effektiv arbeiten wären die Folgen fatal. Nuklearstaaten werden auf ihre Offensivfähigkeit zur Abschreckung nicht verzichten, da man einen Angriff nur abwenden kann, wenn man dem Gegner nicht akzeptable Schäden zufügen kann. Raketenabwehr wirkt additiv zur Abschreckung druch Vergeltung, mit Sicherheit wird BMD diese Form von Abschreckung nicht ersetzen können.

  8. Nun bringt Israel eine Weise der Einhaltung nuklearer Entwicklung zum Tisch. Es scheint mir eine gute Methode Iran zurueckzuhalten. Dann wird auch vielleicht Nord Korea es sich ueberlegen, ob es weitermachen sollte in der Entwicklung nuklearer Bomben. Ich glaube, dass der President von Pakistan zu klug ist sein Land in solch eine gefaehrliche Situation zu bringen. Neben den oben erwaehnten Laendern, welche andere waehren eine Gefahr diesbezueglich?

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